Das Rahmenabkommen wird wieder kommen – sozial muss es sein
Der Bundesrat hat Ende Mai die Verhandlungen mit der Europäischen Union über ein institutionelles Rahmenabkommen abgebrochen. Travail.Suisse erachtet diesen Entscheid als richtig, weil die Verhandlungen in eine Sackgasse geführt hatten. Wie die Diskussionen in den letzten vier Wochen gezeigt haben, geht die Diskussion über das richtige Verhältnis der Schweiz mit der EU weiter. Die institutionellen Fragen – das Rahmenabkommen – sind nicht vom Tisch. Von der europäischen Integration müssen auch die Arbeitnehmenden in der Schweiz profitieren, nicht nur die Unternehmen. Das war der bisherige, erfolgreiche Weg der Schweiz.
Travail.Suisse hat am 26. Mai die Korken nicht knallen lassen. Zu wichtig ist die Regelung des Verhältnisses der Schweiz mit der Europäischen Union für unzählige Arbeitsplätze in der Schweiz. Trotzdem war der Entscheid eine Erlösung. Der freisinnige Bundesrat Cassis hatte mit dem Rahmenabkommen einen Angriff auf die flankierenden Massnahmen gestartet und damit nicht Aussenpolitik, sondern Innenpolitik gegen die Arbeitnehmenden und die Gewerkschaften, betrieben. Statt als Bundesrat zu agieren und mehrheitsfähige Lösungen zu suchen, agierte er weiterhin in seiner Rolle als ehemaliger FDP-Fraktionschef. Die Infragestellung der roten Linien zum Lohnschutz im Sommer 2018 war kein Lapsus des Aussenministers nach etwas mehr als einem halben Amtsjahr. Vielmehr war es ein bewusster, taktischer Entscheid, nicht gemeinsam mit den Gewerkschaften nach Lösungen bei den Flankierenden Massnahmen zu suchen und die Linke zu spalten. Einflussreiche Unterstützer in Bundesratskreisen standen hinter dem Plan, auch Bundesrat Schneider-Ammann half mit, obwohl er heute zu den schärfsten Kritikern des Rahmenabkommens zählt. Dieser Weg führte letztendlich in die Sackgasse: Statt die Flankierenden Massnahmen in Brüssel zu verteidigen und gangbare Lösungen auszuhandeln, war der Dammbruch geschehen. Staatssekretär Balzaretti informierte öffentlich vor der aussenpolitischen Kommission des EU-Parlaments und erwähnte den Lohnschutz in seinen langen Ausführungen mit keinem Wort. Welche Zugeständnisse er damit von der EU erhielt, werden wir wohl nie erfahren. Für die Gewerkschaften kam das Rahmenabkommen mit dieser Verhandlungsführung auf die falsche Bahn.
Verbesserungen des Lohnschutzes ist nötig
Für Lösungen bot in der Folge niemand Hand: Der gleiche Aussenminister erwähnte in der Folge immer wieder die Differenzen zwischen der EU und der Schweiz beim Lohnschutz und forderte kreative Lösungen, schlug selber aber keine vor. Dabei könnte die Schweiz Teile der französischen Lohnschutzmassnahmen einführen und an EU-Unternehmen, die Arbeitnehmende in die Schweiz entsenden, zusätzliche Anforderungen stellen, damit Lohndumping einfacher bekämpft werden kann. Das wäre sicher nicht im Sinne der EU-Kommission gewesen, aber es wäre vielleicht ein Anstoss gewesen um den pragmatischen, diskriminierungsfreien Schweizer Lohnschutz zu akzeptieren. Über ernsthafte Verbesserungen bei den Flankierenden Massnahmen wollte aber niemand sprechen, obwohl die jährlichen Berichte der Kontrollorgane zeigen, dass Lohndumping eine Realität ist. Kurz: Mit dem Rahmenabkommen wurde vom Aussenminister und seinen Mitstreitern bewusst eine innenpolitische Agenda verfolgt, die die bisherige «sozialliberale», europapolitisch erfolgreiche Achse zerstört hat und eine gemeinsame Lösung unmöglich machte.
Gleiche Wettbewerbsbedingungen auch im sozialen Bereich
Gewisse Reaktionen und Forderungen nach dem Übungsabbruch durch den Bundesrat waren entlarvend. Die FDP fordert ein «Fitnessprogramm» für die Schweizer Wirtschaft, weil ohne Rahmenabkommen der Zugang zum EU-Binnenmarkt für die Schweizer Unternehmen nicht mehr garantiert sei. Dies zeigt, dass Wirtschaftskreise mit dem Rahmenabkommen nur einen wirtschaftlichen Nutzen verbinden. Das Rahmenabkommen in seiner letzten Fassung hätte den Marktzugang für die Unternehmen gesichert, für die Arbeitnehmenden aber keine Verbesserungen gebracht. Das kann nicht gut kommen. Die Schweiz profitiert wirtschaftlich von den bilateralen Verträgen – wie auch von anderen Handelsverträgen –, deshalb müssen diese Profite der gesamten Bevölkerung zugutekommen. Die EU hat nach dem Ja zum Brexit verstanden, dass die europäische Integration nur eine Chance hat, wenn die EU auch soziale Fortschritte für die Bevölkerung bringt. Die Verhandlungen zum Rahmenabkommen begannen jedoch noch vor dem Brexit-Ja. Es ist deshalb nur mit dem damaligen Verhandlungsmandat zu erklären, dass die EU von der Schweiz die Einhaltung ihrer Binnenmarktregeln forderte, nicht aber eine Übernahme ihrer Bestimmungen im sozialen Bereich. Mit dem Rahmenabkommen hätte die EU in gewissem Masse ein «Sozialdumping» in der Schweiz erlaubt. Dazu nur ein Beispiel: Alle EU-Mitgliedstaaten müssen eine Elternzeit von je acht Wochen für Mütter und Väter gewähren – wovon die Schweiz noch weit entfernt ist.
Erste Schritte zum nächsten Rahmenabkommen
Travail.Suisse hat deshalb in seinem Kongresspapier 2019 gefordert, dass bei einem Scheitern des Rahmenabkommens auch ein Beitritt zum EWR wieder geprüft werden soll. Mit einem solchen wären Verbesserungen im Bereich der sozialen Sicherheit und der Rechte der Arbeitnehmenden verbunden. Natürlich müsste auch eine Lösung beim Lohnschutz gefunden werden, was nicht einfach sein wird. Der Bundesrat will jetzt (endlich) den politischen Dialog mit der EU aufnehmen und kann dabei auch immer wieder die Flankierenden Massnahmen erklären. Mit entsprechendem politischem Willen auf beiden Seiten wird es möglich sein, die heutigen Bestimmungen beim Lohnschutz als im Einklang mit den EU-Richtlinien zu bezeichnen. Der Hauptkritikpunkt der EU war immer die Voranmeldefrist von acht Tagen. Travail.Suisse war hier nie gegen technische Optimierungen im Voranmeldeprozess. Der Bundesrat hat dem Parlament Ende April einen Verpflichtungskredit für die Erneuerung des Zentralen Migrationsinformationssystem (ZEMIS) beantragt, dabei werden auch die FlaM-Prozesse verbessert. Gleichzeitig beantragt der Bundesrat eine Änderung des Entsendegesetzes. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) soll künftig eine Plattform für die elektronische Kommunikation zur Verfügung stellen, über die die Kontrollorgane einander Auskünfte und Unterlagen übermitteln können. Wenn diese Plattform einmal funktioniert, ist es möglich, dass die Acht-Tage-Regel angepasst werden kann, ohne dass der Lohnschutz darunter leidet. Diese Projekte können als Vorbereitung zum nächsten Rahmenabkommen betrachtet werden.
Europapolitische Integration muss Verbesserungen für Arbeitnehmende bringen
Es ist richtig, dass jetzt alle Optionen für die Gestaltung des Verhältnisses der Schweiz zur EU diskutiert werden. Für Travail.Suisse muss aber zwingend jede Lösung zu Verbesserungen für die Arbeitnehmenden führen. Die EU macht es mit der Gestaltung ihres Pfeilers der sozialen Rechte vor: Europa muss in erster Linie für eine Verbesserung der Lebensrealitäten seiner Bewohnerinnen und Bewohner sorgen. Wenn wir am Ende wieder zum bilateralen Weg und zum Rahmenabkommen zurückkommen, muss es zwingend ein soziales Rahmenabkommen sein. Dafür muss die europapolitische Koalition in der Schweiz wieder reaktiviert werden. Mit diesem Weg wurden die bisherigen Volksabstimmungen zur Personenfreizügigkeit alle gewonnen. Die Diskussionen sollen den Bundesrat jedoch nicht daran hindern, dem Parlament endlich den Beitritt zur Europäischen Arbeitsagentur (ELA) vorzuschlagen und so die grenzüberschreitende Bekämpfung von Lohndumping in Europa zu unterstützen.
Weitere Gedanken zur Europapolitik aus gewerkschaftlicher Sicht finden Sie im folgenden Manifest: