Das Rahmenabkommen lebt noch
Der Bundesrat ist daran, die innenpolitischen Arbeiten zum Rahmenabkommen abzuschliessen und ein neues Verhandlungsmandat zu verabschieden. Die Sozialpartnerdachverbände und die Kantone haben im letzten Jahr die Arbeiten begleitet. Für eine Unterstützung des Rahmenabkommens bleibt für Travail.Suisse der Erhalt des Lohnschutzes zwingend. Darüber hinaus stellen sich einerseits grundsätzliche Fragen zur Souveränität und andererseits zu den wirtschaftlichen Auswirkungen. Travail.Suisse wird das Rahmenabkommen am Ende der Nachverhandlungen neu beurteilen.
Nach der äusserst deutlichen Ablehnung der Kündigungsinitiative am 27. September 2020 durch die Stimmbevölkerung und dem damit verbundenen Bekenntnis zum bilateralen Weg hat der Bundesrat erste Entscheide im Zusammenhang mit dem Rahmenabkommen gefällt. Bereits bekannt ist, dass der Bundesrat die erfahrende Botschafterin Livia Leu zur neuen Verhandlungsleiterin ernannt hat. Sie übernimmt die Aufgaben von Roberto Balzaretti und wird ab Neujahr Leiterin des EDA-Staatssekretariates. Der Wechsel war längst fällig; Travail.Suisse hatte einen solchen bereits im Sommer 2019 gefordert (1), damit eine neue Person die von der Schweiz verlangten Nachverhandlungen in der nächsten Phase leiten kann. Die Erwartung der Arbeitnehmenden an die neue Verhandlungsleiterin ist klar: Sie muss die Flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen verteidigen und eine bessere Lösung erreichen.
Lohnschutz der Schweiz erhalten
Auch wenn die EU-Vertreterinnen und –Vertreter nicht von Nachverhandlungen sprechen wollen, sondern von Klärungen, bleibt es dabei: Das „Protokoll 1 über die anwendbaren Regeln zur Berücksichtigung der Besonderheiten des Schweizer Arbeitsmarkts“ ist ein einseitiges Angebot der Europäischen Union. Dieses Protokoll fordert von der Schweiz einen Rückbau der gesetzlich definierten Flankierenden Massnahmen. Darüber muss verhandelt werden. Die EU soll der Schweiz den autonomen Lohnschutz gewähren und die bisherigen Massnahmen akzeptieren. Das ist nicht abwegig. Seit Verhandlungsbeginn hat die EU den EU-Staaten ermöglicht, ihren Lohnschutz ebenfalls zu verbessern, was diese auch gemacht haben. Die süddeutschen Unternehmen beklagen sich mittlerweile mehr über die Lohnschutzmassnahmen in Frankreich als jene in der Schweiz. Es ist deshalb unverständlich, dass das Lohnschutzniveau der Schweiz gesenkt werden soll. Die EU soll sich vielmehr dem Standard der Schweiz annähern.
Rahmenabkommen sozial flankieren
Die EU hat nach dem Brexit verstanden, dass die europäische Integration nicht nur im wirtschaftlichen Sinne vorangetrieben werden soll, sondern dass es auch soziale Verbesserungen braucht. Die EU hat deshalb die europäische Säule sozialer Rechte verabschiedet und den Bürgerinnen und Bürgern damit in den Bereichen Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen und soziale Absicherung und Inklusion neue Rechte ermöglicht. An dieser Erkenntnis muss sich der Bundesrat orientieren: Die Europapolitik muss mit sozialen Massnahmen flankiert werden. Dann braucht es das Rahmenabkommen nicht nur für den Erhalt des Marktzugangs für die Unternehmen, sondern es nützt auch direkt allen Bürgerinnen und Bürgern in der Schweiz.
Von den bilateralen Verträgen zu einem Assoziierungsabkommen
Je mehr man sich mit dem institutionellen Rahmenabkommen beschäftigt, desto mehr stellt man fest, dass es nicht einfach die Fortführung des bisherigen bilateralen Weges ist. Die allgemeinen Regeln zur dynamischen Übernahme von EU-Recht gelten auch für künftige Abkommen - Abkommen, die beim Abschluss nicht bekannt sind. Das Rahmenabkommen ermöglicht zwar die Ablehnung von EU-Recht. Die EU könnte in diesem Fall allerdings Strafmassnahmen erlassen. Das zeigt: Das Rahmenabkommen ist eine neue Qualität der Beziehungen mit der EU, es ist ein Assoziierungsabkommen. Die Mehrheit der Sozialpartnerdachverbände hat deshalb mit einem gemeinsamen Schreiben an den Bundesrat die Frage des Streitschlichtungsmechanismus aufgeworfen und vorgeschlagen, am klassischen bilateralen Mechanismus festzuhalten.
Bundesrat definiert ein neues Verhandlungsmandat
In Arbeitsgruppen wurden im letzten Jahr zu den vom Bundesrat nach einer Konsultation identifizierten Problembereichen - staatliche Beihilfen, Unionsbürger-Richtlinie und Lohnschutz – Lösungen diskutiert. Travail.Suisse hat in diesen Arbeitsgruppen konstruktiv mitgewirkt. Der Bundesrat wird in den nächsten Tagen und Wochen auf der Basis dieser Arbeiten ein neues Verhandlungsmandat beschliessen und die neue Verhandlungsleiterin Livia Leu wird damit in Brüssel vorstellig werden. Dass der Bundesrat das Mandat nicht veröffentlichen wird, ist aus verhandlungstaktischen Gründen nachvollziehbar. Danach kann es aber schnell gehen: Gemäss Medienberichten will die EU rasch Lösungen finden.
Neubeurteilung am Schluss
Travail.Suisse hat zum vorliegenden Text in der Konsultation im März 2019 klar Stellung genommen und das Rahmenabkommen abgelehnt. Werden Verbesserungen erreicht, wird der Vorstand von Travail.Suisse eine Neubeurteilung vornehmen und dabei auch die wirtschaftlichen Konsequenzen berücksichtigen, die sich aus einer Ablehnung ergeben können. Travail.Suisse hat ein Rahmenabkommen nie grundsätzlich ausgeschlossen. Aber ein solches darf für die Arbeitnehmenden keine Nachteile beinhalten. Es braucht am Schluss eine Mehrheit von Volk und Ständen und diese ist nur mit einer klaren Haltung des Bundesrates und einer innenpolitisch breit abgestützten Lösung zu erreichen.