Betreuende Angehörige – nach der Vorspeise jetzt der Hauptgang?
Im Dezember 2019 hat das Parlament eine Reihe von Massnahmen verabschiedet, um berufstätigen betreuenden Angehörigen in Notfällen unter die Arme zu greifen. Das ist ein echter gesellschaftlicher Fortschritt, der nicht zu unterschätzen ist. Sind denn nun alle Probleme gelöst? Um diese Frage zu beantworten, gilt es, sich in die Forschungsberichte zu vertiefen, die im Rahmen des Förderprogramms des Bundes veröffentlicht wurden. Und wie vermutet: Es liegt noch ein weiter Weg vor uns.
Ausdehnung von Kurzabsenzen auf weitere Anspruchsberechtigte und weitere betreute Personen; Einführung eines langfristigen Betreuungsurlaubs von 14 Wochen für Eltern, deren Kinder schwer krank oder verunfallt sind; Modernisierung der Betreuungsgutschriften; die Sistierung der Hilflosenentschädigung und des Intensivpflegezuschlags bei einem Spitalaufenthalt von betroffenen Kindern; Anpassung des Mietzinsmaximums für die Berechnung der Ergänzungsleistungen: Die fünf vom Parlament in der letzten Wintersession verabschiedeten Massnahmen stellen einen beachtlichen Fortschritt dar, die vielen betreuenden Angehörigen in der Schweiz zugutekommen werden – insbesondere den berufstätigen Angehörigen, die ihre Arbeit mit ihren privaten Aufgaben vereinbaren müssen. Das hat es bisher kaum gegeben.
Nach einer Legislatur, die von einer starken bürgerlichen – von vielen Beobachtern als arrogant wahrgenommenen – Mehrheit geprägt war, die lieber ihre zahlenmässige Übermacht geltend machte als Lösungen für alle zu finden, ist die Verabschiedung dieses Massnahmenpakets als echt bemerkenswert einzustufen. Das vom Bundesrat geschnürte Gesetzespaket hat in einem schwierigen politischen Umfeld die Politikerinnen und Politiker zu überzeugen vermocht, die sich sonst gegen jegliche soziale Innovation sträubten. Nicht ganz unschuldig an diesem Erfolg ist das monatelange intensive Lobbying von Travail.Suisse, der Interessengemeinschaft für betreuende und pflegende Angehörige (IG-Betr. Angehörige) und deren Mitgliedern. Auch die grosse Anzahl der betreuenden Angehörigen in der Schweiz – rund 2 Millionen – erklärt sicherlich, weshalb die Volksvertreterinnen und -vertreter die Notwendigkeit erkannt haben. Denn wer kennt in seinem Umfeld nicht jemanden, der Betreuungs- und Unterstützungsaufgaben für einen Elternteil, Angehörige oder einen Nachbarn im Dorf übernimmt? Wer hat nicht schon gesehen, mit welchen Problemen sie im Alltag konfrontiert sind?
Nach den Notfällen geht es nun ums Langfristige
Zwar haben wir eine Schlacht gewonnen, aber ein Waffenstillstand ist noch nicht in Sicht. Die Bedürfnisse der berufstätigen betreuenden Angehörigen wurden nun anerkannt, und Travail.Suisse freut sich darüber sehr. Für die Arbeitnehmenden ist mit dem Inkrafttreten dieser Massnahmen ein Silberstreifen am Horizont zu erkennen. Aber diese fünf Massnahmen sind erst der erste Schritt. Man könnte sagen, es handle sich um die Vorspeise. Nun geht es darum, sich unverzüglich um die Hauptgänge des Menüs zu kümmern.
Der Bundesrat und das Parlament haben beschlossen, sich in einem ersten Schritt um die Notfälle zu kümmern. Aber Lösungen für Situationen, in denen eine erwachsene Person – ein Ehepartner, eine Partnerin – im Alltag Unterstützung benötigt, fehlen nach wie vor. Nach einem Schlaganfall sind beispielsweise nicht alle Personen nach der Rehabilitation in der Lage, ihr Leben wieder eigenständig zu führen. Wie lässt sich in einem solchen Fall die Berufstätigkeit mit der Belastung als betreuende Angehörige im Alltag vereinbaren? Gewiss können Aufgaben teilweise ausgelagert werden, aber die Beanspruchung von Diensten für Haushilfe und Hauspflege führt manchmal zu untragbaren Kosten. Oder diese Dienste sind in der Region, in der man wohnt, nicht genügend ausgebaut.
Der finanzielle Bedarf macht Sorgen
Das Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige» soll von 2017 bis 2020 die Situation und die Bedürfnisse von betreuenden und pflegenden Angehörigen erforschen. Die verschiedenen Forschungsmandate wurden fast alle abgeschlossen: Auf der Website des Bundesamts für Gesundheit (BAG) wurden bereits neun Berichte veröffentlicht. Fünf Forschungsmandate laufen noch.
Es wurden verschiedene Aspekte erforscht: der Unterstützungs- und Entlastungsbedarf der betreuenden Angehörigen, und zwar in verschiedenen Kantonen, sowie ihre Bedürfnisse in Krisen- und Notfallsituationen. Die Koordination der Versorgung mit den betreuenden Angehörigen, die von der Forschung häufig vernachlässigt wird, wurde in einer separaten Studie thematisiert. Die Einflussfaktoren für die Inanspruchnahme von Tages- und Nachtstrukturen sowie die entsprechenden Zugangsbarrieren wurden analysiert, ebenso die finanzielle Tragbarkeit von Betreuungsarrangements in den eigenen vier Wänden für Familien. Bei den Unternehmen wurden die freiwilligen Massnahmen zusammengetragen und analysiert.
Bevor der für dieses Jahr geplante zusammenfassende Bericht erscheint, können bereits die ersten Handlungsfelder auf Bundesebene ausgemacht werden, auch wenn das Gesundheitswesen ganz allgemein Aufgabe der Kantone ist. Bei vielen Bedürfnissen steht die finanzielle Frage der betreuenden Angehörigen im Mittelpunkt.
- Wenn man Angehörige betreut, ist es schwierig, automatisch einfache, klare und rasche Informationen zu allen bestehenden Hilfen zu erhalten, auf die man bereits Anspruch hat. Ausserdem ist der Weg zu diesen Hilfen mit administrativen Hindernissen gepflastert (Wartefrist, jährliches Antragsverfahren, nachträgliche Zahlung, keine Übernahme der hohen Kosten, wenn Bedarfsleistungen beansprucht werden, usw.).
- Der Verdienstausfall, den man bei der Betreuung von Angehörigen erleidet, wird von den bestehenden Sozialversicherungen nur sehr selten ausgeglichen. Das Einkommen der betreuenden Angehörigen wird grossenteils von den Kosten für die Entlastungsangebote «aufgefressen». Die Preise für solche Angebote tragen im Allgemeinen weder dem Einkommen Rechnung noch gibt es eine Obergrenze. Des Weiteren gibt es bei den Tarifen und der Besteuerung je nach Wohnkanton sehr grosse Unterschiede.
- Beim Gesetzesentwurf des Bundesrates wurde häufig kritisiert, dass keine Betreuungsgutschriften vorgesehen waren. Ausserdem wurde nicht auf das Bedürfnis der betreuenden Angehörigen, sich mindestens eine Woche pro Jahr unentgeltlich zu erholen, eingegangen.
Diese Liste ist nicht abschliessend, und man sieht deutlich, dass es noch viel zu tun gibt. Wir müssen uns vergewissern, dass unsere Gesellschaft auch weiterhin auf die Arbeit der Angehörigen zählen kann, indem wir Sorge zu ihrer Gesundheit tragen und ihnen im Leben wie im Rentenalter die Würde ermöglichen, die sie mit ihrem Einsatz verdienen.