Nach dem Erfolg des Vaterschaftsurlaubs – die nächsten Schritte
Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, freut sich sehr über die gewonnene Abstimmung vom 27. September 2020 zum Vaterschaftsurlaub und hat den Erfolg entsprechend gefeiert. Dank Travail.Suisse und den Dutzenden zivilen Organisationen und Verbände, die sich für dasselbe Ziel starkgemacht haben, verfügt die Schweiz nun endlich über einen zehntägigen Vaterschaftsurlaub. Allerdings gibt es in Anbetracht des Ziels einer echten Familienpolitik mit einem Elternurlaub noch viel zu tun – insbesondere, wenn diese Politik die Beseitigung der Diskriminierung anstrebt, deren Opfer momentan die jungen Mütter sind.
Wir haben es Anfang Jahr einmal mehr betont (1): Mutterschaft lässt sich mit der Fortführung der Berufstätigkeit schlecht vereinbaren. Ab der ersten Schwangerschaft werden Tausende von Frauen, die gut auf dem Arbeitsmarkt integriert sind, stark diskriminiert. Auf der Basis der Studie des Büros BASS aus dem Jahr 2018, die vom Bundesamt für Sozialversicherungen in Auftrag gegeben wurde (2), schätzt Travail.Suisse, dass im besten Fall 5 %, im schlechtesten Fall 10 % der berufstätigen Frauen, die Mutter werden oder geworden sind, diskriminiert werden. Wendet man diese Zahlen auf die werdenden Mütter sowie auf die Wiedereingliederungsquote von Müttern mit Kindern zwischen 0 und 3 Jahren an, werden jedes Jahr zwischen 3300 und 6600 Frauen wegen ihrer Mutterschaft diskriminiert. Diese Diskriminierung kann in einer Entlassung gipfeln.
Das unternehmerische Risiko der Abwesenheit: Realität und Tabu zugleich
Dieser inakzeptablen diskriminierenden Situation zugrunde liegt das unternehmerische Risiko, das zu viele Arbeitgeber nicht mehr übernehmen wollen: das Risiko, eine Frau einzustellen, die eines Tages (erneut) Mutter wird und ihrer Arbeit mehrere Monate lang fernbleiben muss. Junge Frauen werden nicht nur bei der Einstellung diskriminiert; viele von ihnen verlieren ihre Stelle auch nach dem Mutterschaftsurlaub. Die Diskriminierung von jungen Müttern ist aber ein Tabu, da ein Arbeitgeber grundsätzlich nicht das Recht hat, eine arbeitsuchende Frau nach ihrem Kinderwunsch zu befragen. Das ist eine private Frage, die nur sie etwas angeht. Aber viele qualifizierte Bewerberinnen werden genau aufgrund der Angst, wegen Mutterschaft auszufallen, nicht eingestellt. Oder erfahrene Mitarbeiterinnen verlieren ihre Stelle nach Ablauf des Kündigungsschutzes infolge der Mutterschaft (3). Vor kurzem hat die Sendung «Temps Présent» von RTS diese harte Realität mit mehreren konkreten Beispielen veranschaulicht (4) .
Das Argument des «Abwesenheitsrisikos» hat während der Kampagne zur Abstimmung über den Vaterschaftsurlaub für Schlagzeilen gesorgt. Travail.Suisse hat immer wieder darauf hingewiesen, dass ein Vaterschaftsurlaub bei der Frage des Abwesenheitsrisikos auf dem Arbeitsmarkt ein erster Schritt hin zu einem Gleichgewicht zwischen Frau und Mann wäre. Am 27. September hat die Bevölkerung mit 61 % den gesetzlich verankerten Vaterschaftsurlaub angenommen. Zwei Wochen im Vergleich zu vierzehn – damit ist das Gleichgewicht zwar alles andere als erreicht. Aber der Vaterschaftsurlaub wird zu einem langsamen Mentalitätswandel beitragen. Neu werden bei der Geburt eines Kindes beide Elternteile der Arbeit vorübergehend fernbleiben. Travail.Suisse geht davon aus, dass das bei einer leichten Krankheit des Kindes punkto Abwesenheiten von Vater und Mutter langfristig ebenfalls geschehen wird. Die Meinungen wandeln sich, wie dies das Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege zeigt, das vom Parlament im Dezember 2019 verabschiedet wurde: Der Gesetzestext führt einen neuen Betreuungsurlaub von bis zu 14 Wochen ein, wenn ein Kind wegen Krankheit oder Unfall gesundheitlich schwer beeinträchtigt ist. Arbeiten beide Elternteile, wird der Urlaub dem Vater wie der Mutter gewährt, beide können aber höchstens je 7 Wochen Urlaub beziehen. Das Gesetz tritt am 1. Juli 2021 in Kraft.
Grosser Unterschied bei den Geburtsurlauben
Es gibt einen ganz grundlegenden Unterschied zwischen Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub: Die Pflicht, den Urlaub zu beziehen. Die Mütter dürfen in den ersten 8 Wochen nach der Geburt nicht arbeiten, die Väter sind nicht verpflichtet, ihren Vaterschaftsurlaub zu beziehen. In der Praxis muss deshalb zwingend beobachtet werden, wie dieser Urlaub bezogen wird. Insbesondere ist es wichtig zu wissen, ob die Arbeitgeber der legitimen Forderung der Väter, von diesem neuen Recht zu profitieren, nachkommen. Ab dem 1. Januar werden die Gewerkschaften bei ihren Mitgliedern genau hinhören, ob die frischgebackenen Väter unter ihnen den Druck verspüren, ihren zehntägigen Urlaub nicht zu beziehen. Wachsamkeit ist angesagt.
Der Adoptionsurlaub: bald ein zweiter Erfolg für Travail.Suisse
Auf dem Radar der Familienpolitik steht ein weiterer Urlaub kurz vor seiner Durchsetzung: der Adoptionsurlaub. Schon 2013 hatte der Tessiner CVP-Politiker Marco Romano zusammen mit Travail.Suisse eine parlamentarische Initiative für die Einführung eines Adoptionsurlaubs eingereicht. Der Text wurde zwar von der zuständigen Kommission so abgeschwächt, dass der Urlaub statt 12 nur noch 2 Wochen dauern soll, er hat aber die Hürde der beiden Kommissionen genommen und wurde am 23. September 2020 auch vom Nationalrat abgesegnet. In der Wintersession dürfte die Vorlage nun auch von der kleinen Kammer verabschiedet werden.
Langfristig soll ein Elternurlaub die Geburtsurlaube ergänzen
Unmittelbar nach der Abstimmung vom 27. September 2020 liessen viele Organisationen durchblicken, dass sie bereits über den nächsten Schritt – den Elternurlaub (5) - diskutieren . Die Position von Travail.Suisse ist bekannt: Es braucht auch in der Schweiz einen Elternurlaub, der die Geburtsurlaube ergänzt. Das haben die Delegierten von Travail.Suisse 2019 an ihrem Kongress beschlossen (6) .
Dank der Erfahrung, die Travail.Suisse mit der Lancierung der Volksinitiative für den Vaterschaftsurlaub und mit der erfolgreichen Durchführung der Kampagne, die zum Abstimmungserfolg vom 27. September geführt hat, gesammelt hat, ist und bleibt Travail.Suisse in den Diskussionen zur Vereinbarkeit von Beruf und allen anderen Facetten des Privat- und Familienlebens ein sehr wichtiger Akteur. Travail.Suisse bringt seine Unterstützung und Erfahrung im Dachverband Pro Familia Schweiz sowie in der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen EKFF ein. Diese Kommission hat ein Modell für einen 22-wöchigen Elternurlaub erarbeitet (wenn man nur die Zeit rechnet, die zu den 14 Wochen Mutterschaftsurlaub und zum 2-wöchigen neuen Vaterschaftsurlaub hinzukommt).
Die Diskussionen stehen erst am Anfang. Die Anteile, die Vater und Mutter vorbehalten sind, die Möglichkeit einer freien Aufteilung zwischen den Eltern, die Finanzierungsmodalitäten, die egalitäre Ausrichtung des Systems, die Bezugsfrist oder die Höhe des Ersatzeinkommens müssen möglichst breite Unterstützung finden. Diesbezüglich können sicherlich die berühmten Worte von Bundesrat Alain Berset wieder aufgenommen werden: «Wir müssen so schnell wie möglich, aber so langsam wie nötig handeln.» Denn in der Politik ist übereiltes Handeln häufig ein schlechter Ratgeber.