Warum es eine obligatorische Krankentaggeldversicherung braucht
Wer krank wird, soll deshalb nicht in materielle Not geraten. Leider wird dieser Grundsatz in der Schweiz nicht überall gelebt. Die Lohnfortzahlung bei Krankheit ist nämlich in der Schweiz nur ungenügend gewährleistet. Es gäbe gute Gründe, dies zu ändern.
Wer krank wird, ist heute über die sogenannte Krankentaggeldversicherung abgesichert. Sie übernimmt ab einer bestimmten Frist einen Teil des Lohns, wenn ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin länger krank ist. In der Regel zahlt die Krankentaggeldversicherung ab einer bestimmten Krankheitsdauer (z.B. mehr als ein Monat) während maximal zwei Jahren 80% des bisherigen Lohnes.
Lücken ohne Obligatorium
Dies gilt jedoch nur für Arbeitnehmende deren Arbeitgeber eine Krankentaggeldversicherung abgeschlossen hat. Wer bei einem Arbeitgeber ohne Krankentaggeldversicherung erkrankt, hat gemäss Obligationenrecht während einer gewissen Zeit Anspruch auf eine Lohnfortzahlung. Im ersten Dienstjahr gilt dies während drei Wochen, anschliessend steigen die Ansprüche je nach Skala bis zum 21. Dienstjahr auf 6 bzw. 6,5 Monate.
Bei einer Krebserkrankung beispielsweise sind einige Wochen oder Monate deutlich zu kurz, um nach dem bezahlten Erwerbsunterbruch wieder voll arbeitsfähig zu sein. Was bedeutet das für die betroffenen Arbeitnehmenden? Sie erhalten nach wenigen Wochen oder Monaten keinen Lohn mehr und geraten unverschuldet in finanzielle Nöte.
In der Regel dauert es rund zwei Jahre, bis bei einer schweren, längerfristigen Arbeitsunfähigkeit eine IV-Rente gesprochen wird. In dieser Zeit bis zum Entscheid entsteht für die betroffenen erkrankten Arbeitnehmenden finanziell eine riesige finanzielle Lücke, die sie aufgrund ihrer Krankheit nicht überbrücken können.
Probleme der Arbeitgebenden
Aber nicht nur die Arbeitnehmenden stehen ohne Obligatorium vor einem Problem. Für die Arbeitgebenden stellt sich insbesondere in kleinen Betrieben das Problem, keine bezahlbare Krankentaggeldversicherung zu finden. Erkrankt beispielsweise eine Mitarbeiterin an Krebs, werden die Versicherer so hohe Prämien verlangen, dass es für kleinere Unternehmen kaum möglich ist, die Kosten zu stemmen.
Die Versicherer können die Prämien zu ihren Gunsten gestalten und die Risiken auf die Arbeitgeber abwälzen. Bei der Prämienberechnung beziehen sie auch Faktoren in das Risikoprofil ein, die nicht direkt mit bisher erfolgten Fällen im zu versichernden Betrieb zu tun haben. So werden beispielsweise die Branche oder das Geschlecht der Arbeitnehmenden bei der Prämienhöhe berücksichtigt. Wer viele Frauen beschäftigt, zahlt beispielsweise oft höhere Prämien, weil Krankschreibungen im Zusammenhang mit Schwangerschaften häufig sind.
Chancen eines Obligatoriums
Ein Obligatorium könnte einige der oben genannten Probleme lösen. Es würde dazu führen, dass die Lohnfortzahlung so ausgeweitet werden könnte, dass die Arbeitnehmenden bei längerer Krankheit keine unzumutbaren Lohneinbussen mehr befürchten müssten. Bei einem Obligatorium müssten aber auch die Versicherer in die Pflicht genommen werden. Denkbar wäre ein Modell analog zur Unfallversicherung. Dort gibt es bestimmte Arten von Betrieben, die bei der SUVA versichert sein müssen, weil sie ein besonders hohes Unfallrisiko haben, das möglichst breit abgesichert und präventiv reduziert werden soll. Durch die Verteilung des Risikos und die Präventionsmassnahmen sind die Prämien bei der SUVA vergleichsweise tief.
Ein weiterer Vorteil eines Obligatoriums wäre denn auch, dass neue Anreize zur Prävention geschaffen würden. Heute haben die Versicherer kein Interesse, in die Prävention zu investieren. Angesichts der starken Zunahme psychosozialer Erkrankungen, wäre es dringend nötig, dass mehr in die Prävention dieser häufig stressbedingten Erkrankungen zu investieren. Der Barometer Gute Arbeit zeigt seit Jahren die stetige Zunahme von Stress bei den Arbeitnehmenden, psychische Erkrankungen sind erstmals auch der Hauptgrund für eine Neurente bei der IV.
Die SUVA leistet im Bereich Unfall wichtige Präventionsarbeit und hat bedeutende Erfolge zu verzeichnen. Das Beispiel zeigt, dass es wichtig wäre, dass die Präventionsarbeit auch bei Krankheit verstärkt würde. Ein grosser Versicherer im Bereich der Krankentaggeldversicherung, der die wichtigsten Risikobranchen abdeckt, hätte ein Interesse daran, in die Prävention zu investieren.
Eine verstärkte Prävention durch einen Krankentaggeldversicherer hätte auf mehreren Ebenen positive Auswirkungen. Einerseits würden die Arbeitnehmenden besser vor psychosozialen Risiken wie gesundheitsschädigendem Stress am Arbeitsplatz geschützt. Andererseits könnten durch einen verstärkten Gesundheitsschutz auch Krankheitsfälle reduziert und akute Personalengpässe vermieden werden.
Aktueller politischer Stand
Der Nationalrat hat letztes Jahr die Motion Romano überwiesen, welche die Einführung des Obligatoriums für die Krankentaggeldversicherung fordert. Die Motion ist zurzeit im Ständerat hängig. Die zuständige Kommission hat im April beschlossen, ein Kommissionspostulat einzureichen. Damit soll der Bundesrat beauftragt werden, die Probleme und mögliche Lösungen aufzuzeigen, um die Lücken beim Lohnersatz wegen Krankheit zu füllen. Am 4. Juni wird sich der Ständerat zum Postulat äussern. Travail.Suisse begrüsst diese Stossrichtung sehr und hofft, dass der Ständerat sich für eine Auslegeordnung ausspricht.