Übermässiges Homeoffice gefährdet die Gesundheit
Seit der Bundesrat Massnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie beschlossen hat, steht Homeoffice hoch im Kurs. Die Beschränkungen, die der Arbeitswelt auferlegt wurden, haben die Digitalisierung grosser Teile der Wirtschaft und der Arbeitswelt massiv beschleunigt. Zwar wird Telearbeit häufig als Patentlösung für sämtliche Probleme im Zusammenhang mit der Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben angesehen. Sie muss aber beschränkt werden, da sie ein ernstes Gesundheitsrisiko darstellen kann.
Der Lockdown sowie die im Frühling 2021 angeordnete Homeofficepflicht haben die Digitalisierung grosser Teile der Wirtschaft und der Arbeitswelt massiv beschleunigt. Was vor der Pandemie noch als undenkbar galt, wurde von einem Tag auf den anderen möglich. Die Digitalisierung von Einkäufen und Zahlungen, die Prüfung von Patienten- oder Kundendossiers oder die Steuerung jeglicher Prozesse aus der Ferne sind zur neuen Realität geworden. Viele Berufe, selbst im sozialen Bereich, konnten von zuhause aus ausgeübt werden, wenn ein Computer und eine gute Internetverbindung vorhanden waren.
Ein Artikel von Vorstandsmitgliedern der «Commission tripartite romande»(1), der vor Kurzem erschienen ist, thematisiert die Probleme und die Chancen im Bereich der Sozialarbeit in Bezug auf das Homeoffice.
- Sozialarbeit im Homeoffice erlaubt ein flexibleres Zeitmanagement, doch die Trennung zwischen Berufs- und Privatleben schwindet. Häufig muss die private Telefonnummer oder die persönliche E-Mail-Adresse angegeben werden, um auf diverse Tools zugreifen zu können.
- Sozialarbeit im Homeoffice ermöglicht Einsparungen beim Pendeln und Zeitgewinne, doch der Einsatz von digitalen Kommunikationsmitteln bedingt die Bereitstellung von spezifischen kostenintensiven Ressourcen (Lernprozesse, Lizenzen) und schafft eine Abhängigkeit von Dritten (Softwarehersteller, Internetzugang).
- Sozialarbeit im Homeoffice setzt die Nutzung von Medien voraus, die für eine Verwendung durch die Massen konzipiert wurden. Die Nutzerinnen und Nutzer müssen sich also an deren Verwendung anpassen und nicht umgekehrt. Nicht verbale Botschaften und Empfindungen werden nicht so gut wahrgenommen, wie wenn man vor Ort wäre. Daher besteht das Risiko, Situationen falsch zu interpretieren oder zu verstehen.
- Digitale Hilfsmittel vereinfachen das Leben bestimmter Menschen (z. B. von Menschen mit Behinderungen, die sich aus der Ferne leichter äussern können, von Personen mit eingeschränkter Mobilität, die häufiger kontaktiert werden können), aber sie führen zu Beschränkungen beim Material, bei den Kompetenzen und bei den Anwendungsnormen. Es besteht das Risiko einer digitalen Kluft, aber auch das Risiko, dass neue Formen der Marginalisierung unsichtbar werden. Fachkräfte und Nutzerinnen und Nutzer werden nicht mehr «eingeladen», online zu agieren, sie werden «aufgefordert», die sich ständig wandelnden digitalen Technologien zu nutzen, was eine grosse Anpassungsfähigkeit voraussetzt.
In anderen Wirtschaftsbranchen im Dienstleistungssektor wird die Telearbeit als Wundermittel für alle Zwecke vorgestellt und sie wird oft auch von den Arbeitnehmenden gefordert. Aber ist sie wirklich ein Wundermittel? Die Antworten gilt es zu nuancieren. 2020 konnte nur ein Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung im Homeoffice arbeiten (2). Alle Berufe, die eine enge Zusammenarbeit erfordern oder bei denen zwischenmenschliche Beziehungen oder Empathie im Fokus stehen, können aus der Ferne nicht optimal ausgeübt werden.
Homeoffice ist Arbeit, nicht Kinderbetreuung
Telearbeit wird häufig als die Lösung für die Vereinbarkeit von Privat-, Familien- und Berufsleben angepriesen, sowohl von den Arbeitnehmenden als auch von ihren Arbeitgebenden. Für die Arbeitnehmenden ist es gewiss verlockend, nicht mehr zur Arbeit pendeln zu müssen: Die an jedem Telearbeitstag gewonnene Reisezeit wird in Familien- und Hausarbeit investiert. Dadurch entsteht der Eindruck, Erwerbsarbeit und Privatleben besser unter einen Hut zu bringen.
Doch häufig ist das nur eine Illusion. Der Grund dafür ist einfach: Ohne Arbeitszeiterfassung liegt die Arbeitsdauer meist über der vereinbarten Arbeitszeit – und zwar im Schnitt um 3,9 Stunden pro Woche (3). Die Arbeitszeiterfassung erlaubt es nicht nur, diese Überzeit zu beschränken, sondern führt auch zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie und zu weniger Stress.
Die Schweiz und Island verzeichnen im europäischen Ländervergleich mit 42,5 Stunden pro Woche bei den Vollzeitarbeitnehmenden die höchste tatsächliche Arbeitszeit pro Woche (4) . Die Telearbeit birgt das Risiko, dass sich die Situation verschlimmert. Einige Personen geben an, über 55 Stunden pro Woche zu arbeiten – in dieser Personengruppe erfasst ein grosser Anteil ihre Arbeitszeit nicht. Dies stellt eine grosse Gefahr für die Gesundheit dar, wie die WHO und die IAO in einer im Frühjahr 2021 veröffentlichten Studie belegt haben (5). Bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 55 Stunden oder mehr im Vergleich zu Arbeitszeiten von 35 bis 40 Stunden pro Woche nehmen laut dieser Studie das Schlaganfallrisiko um 35 % und das Risiko, an einer koronaren Herzkrankheit zu sterben, um 17 % zu.
Ein Glücksfall für die Arbeitgebenden
Die Telearbeit stellt für die Arbeitgebenden einen echten Segen dar. Eine Studie (6) , die bei einem chinesischen Reisebüro mit rund 1000 Angestellten durchgeführt wurde, kam zum Schluss, dass Produktivität und Leistung signifikant stiegen, ebenso die persönliche Zufriedenheit der Arbeitnehmenden. Die Fluktuationsrate beim Personal nimmt ab, Gleiches gilt für die Kosten für Räumlichkeiten und Material, sollte sich die Telearbeit dauerhaft etablieren. Dies gilt aber nur, sofern die Telearbeit nicht mehr als die Hälfte der üblichen Arbeitstage ausmacht. Sonst schwinden die positiven Effekte.
Aus der Arbeitswissenschaft wissen wir, dass die Leistung von Teams abnimmt, je mehr Angestellte im Homeoffice arbeiten, dass erfolgreiche Teams häufiger über Angelegenheiten sprechen, die nichts mit der Arbeit zu tun haben («Kaffeemaschineneffekt»), und dass die soziale und berufliche Isolation zu einem Leistungsrückgang führt. Das dürfte die Arbeitgeber in ihrer übereifrigen Förderung der Telearbeit etwas bremsen!
Grosse Risiken für die Gesundheit der Angestellten
Indem die physische und psychische Distanz zu den beruflichen Aufgaben aufgehoben wird, besteht das Risiko, dass diese Aufgaben auf das Privatleben übergreifen. Wenn man zuhause arbeitet, wird man dazu verleitet, mehr zu arbeiten, was zur Überbeanspruchung führen kann. Eine deutsche Studie zeigt, dass die im Homeoffice Arbeitenden es häufig als schwierig erachten, nach der Arbeit abzuschalten und ausserhalb der Arbeitszeiten oder während der Ferien nicht an die Arbeit zu denken. Dies wird als «kognitive Irritation» bezeichnet (7) . Das Risiko einer Überbeanspruchung ist gross. Doch die Prävention einer Überbeanspruchung obliegt gemäss dem Arbeitsgesetz dem Arbeitgeber / der Arbeitgeberin (Art. 6 Abs. 2 ArG). Wenn Telearbeit möglich ist, hat sie verschiedene positive Auswirkungen, jedoch auch viele negative. Daher muss der Schutz verstärkt werden, indem die bestehenden Gesetzestexte im Hinblick auf eine Regelung der Telearbeit ergänzt werden.
Es braucht einen Rahmen und Regeln
Für die Arbeitnehmenden führt Homeoffice zu weniger Kontakten mit ihren Kolleginnen und Kollegen, was wiederum zu sozialer Isolation führen kann. Dies schadet den Angestellten langfristig – nicht nur in Bezug auf die Produktivität, wie oben dargelegt wurde. Daher muss die Telearbeit auf höchstens 50 % des Pflichtenhefts beschränkt werden. Die Arbeitgebenden können die Ergonomie des Arbeitsplatzes bei den Mitarbeitenden zuhause nicht überprüfen. Im Unternehmen sind sie aber dafür verantwortlich (Art. 2 Abs. 1 ArGV 3). Hier besteht Handlungsbedarf. Die Angestellten müssen ein Recht haben, sich während der Ruhezeiten auszuklinken: Die Arbeitgebenden müssten übereifrige Mitarbeitende, die mitten in der Nacht oder am Wochenende arbeiten würden, «aussperren». Wenn eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Familie angestrebt wird, müssen die Mitarbeitenden im Homeoffice ihre Arbeitszeit selbst organisieren können und die Arbeitszeit muss erfasst werden. Offensichtlich muss die Telearbeit im Einvernehmen erfolgen und darf nicht auferlegt werden.
Das Arbeitsrecht muss an die neuen Arbeitsformen angepasst werden, aber das Hauptziel muss beibehalten werden: der Schutz der physischen und der psychischen Gesundheit der Arbeitnehmenden. Und dieser muss weiterhin in die Zuständigkeit der Arbeitgebenden fallen. Jeglicher weitere Versuch, die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen zu «flexibilisieren» und zu schwächen, ist inakzeptabel.
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Quellen
- Die Commission tripartite romande ist eine Organisation für die Zusammenarbeit zwischen dem Bereich Sozialarbeit der HES-SO und der Berufswelt. Siehe Artikel «Le télétravail social, dangers ou opportunités?», erschienen im Onlinemagazin REISO.ORG am 19. Juli 2021
- 2020, Teleheimarbeit, SAKE, BFS
- Bonvin J.-M., Cianferoni N. und Kempeneers P. (2019). Evaluation
- Eurostat und SAKE, siehe BFS (2019) «Rund 7,9 Milliarden Arbeitsstunden im Jahr 2018», Medienmitteilung vom 23. Mai 2019
- WHO/ILO 2021
- Bloom N., Liang J., Roberts J., Ying Z. J, «Does working from home work? Evidence from a Chinese Experiment»
- A. Waltersbacher, M. Maisuradze, H. Schröder, «Arbeitszeit und Arbeitsort – (wie viel?) Flexibilität ist gesund?», 2019