20 Jahre flankierende Massnahmen – Lohnschutz muss gestärkt werden
Vor 20 Jahren wurden in der Schweiz die flankierenden Massnahmen (FlaM) eingeführt. Sie sind eine unbestrittene Erfolgsgeschichte. Trotzdem bestehen nach wie vor erhebliche Lücken und Umsetzungsprobleme. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt zudem einen Strukturwandel in der Zuwanderung, mit dem die Arbeitgebenden den Lohnschutz teilweise umgehen. Der neue FlaM-Bericht verdeutlicht: der Lohnschutz muss gestärkt werden.
Die Löhne in unseren Nachbarländern Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien liegen deutlich unter denjenigen der Schweiz. Italienische, französische und deutsche Arbeitnehmende verdienen im Durchschnitt zwischen 60 und 80 Prozent eines Schweizer Lohnes. Der Durchschnittslohn ungarischer Arbeitnehmender liegt bei rund 40 Prozent eines Schweizer Lohnes. Ohne einen starken und ausgebauten Lohnschutz wären die Löhne in der Schweiz deshalb in verschiedenen Branchen in den letzten 20 Jahren stark unter Druck geraten. Die flankierenden Massnahmen haben dies weitgehend verhindert. Die Personenfreizügigkeit ist deshalb ohne die FlaM nicht denkbar.
FlaM-Bericht 2023 – Lohnunterbietungen bei jedem fünften Entsendebetrieb
Jährlich erstellt das Seco einen Vollzugsbericht zur Umsetzung der flankierenden Massnahmen. Er zeigt, dass im Jahr 2023 insgesamt 36'582 Kontrollen durchgeführt wurden. In Branchen mit allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträgen sind dafür die paritätischen Kommissionen der Sozialpartner zuständig, in Branchen ohne Gesamtarbeitsverträge hingegen die tripartiten Kommissionen. In Branchen ohne Gesamtarbeitsverträge wurden 2023 bei jedem fünften Entsendebetrieb Lohnunterbietungen festgestellt. Bei Unternehmen mit Sitz in der Schweiz wurde bei gut jedem zehnten Unternehmen eine Unterbietung der orts-, berufs- und branchenüblichen Löhne festgestellt. Dies zeigt, dass dank den flankierenden Massnahmen Lohnunterbietungen grundsätzlich festgestellt und geahndet werden können. Je nach Kanton bestehen jedoch grosse Spielräume bei der Festlegung der orts-, berufs- und branchenüblichen Löhne. Als Folge davon müssen die Lohnunterbietungen teilweise sehr hoch sein, um als solche festgestellt zu werden. «Ein echter Lohnschutz ist vor allem dann möglich, wenn in Gesamtarbeitsverträgen oder Normalarbeitsverträgen minimale Lohnuntergrenzen festgehalten werden, die klare Verhältnisse schaffen und entsprechend ohne Spielräume gelten», so Nora Picchi, Leiterin Gewerkschaftspolitik, Recht und Vollzug bei der Gewerkschaft Syna. «Allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge sind deshalb ein zentraler Kern des Lohnschutzes», so Nora Picchi.
Instrumentarium der flankierenden Massnahmen bleibt zu häufig ungenutzt
Die tripartiten Kommissionen führen mit Betrieben, welche die orts-, berufs- und branchenüblichen Löhne unterbieten sogenannte Verständigungsverfahren durch, mit dem Ziel, dass die Betriebe ihre Löhne anpassen. Im Jahr 2023 konnten bei Unternehmen mit Sitz in der Schweiz nur gerade 54% der Verständigungsverfahren erfolgreich abgeschlossen werden. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass bei Unternehmen mit Sitz in der Schweiz keine Sanktionen drohen, wenn eine Unterschreitung der orts-, berufs- und branchenüblichen Löhne festgestellt wird. Deutlich erfolgreicher sind die Verständigungsverfahren hingegen bei den Entsendebetrieben. Hier bestehen wirksame Sanktionsmöglichkeiten. So konnten im Jahr 2023 bei vier von fünf Unternehmen, bei welchen Lohnunterbietungen festgestellt wurden, die Verständigungsverfahren erfolgreich abgeschlossen werden. Die tripartiten Kommissionen können bei wiederholter missbräuchlicher Unterbietung der orts-, berufs- und branchenüblichen Löhne einen Gesamtarbeitsvertrag für alle Betriebe einer Branche allgemeinverbindlich erklären oder einen Normalarbeitsvertrag mit verbindlichen Minimallöhnen erlassen. Derzeit wird dieses Instrument allerdings hauptsächlich in zwei Kantonen – Tessin und Genf – effektiv genutzt. Lediglich drei weitere Kantone (JU, VD, VS) haben je einen bzw. zwei Normalarbeitsverträge (VS) erlassen. «Trotz regelmässig festgestellter missbräuchlicher Lohnunterbietungen und gescheiterter Verständigungsverfahren bleibt das Instrumentarium der flankierenden Massnahmen von den tripartiten Kommissionen zu häufig ungenutzt», so Thomas Bauer, Leiter Wirtschaftspolitik bei Travail.Suisse.
Strukturwandel – stabile Entsendungen, aber starke Zunahme kurzfristiger Stellenantritte
Der FlaM-Bericht verdeutlicht einen weiteren wichtigen Aspekt. Bei der Zuwanderung im FlaM-Bereich findet ein Strukturwandel statt. Die Entsendung von Arbeitnehmenden durch ausländische Arbeitgebende in die Schweiz hat sich zwar seit 10 Jahren bei rund 80'000 Entsandten pro Jahr stabilisiert. Im Entsendebereich finden rasche und enge Kontrollen bei den orts-, berufs- und branchenüblichen Löhne statt. Weniger engmaschig und weniger rasch sind die Kontrollen hingegen bei den kurzfristigen Stellenantritten bei Schweizer Arbeitgebenden. Gerade diese nehmen aber rasant zu. Allein im Jahr 2023 haben die kurzfristigen Stellenantritte gegenüber dem Vorjahr um 4,9 Prozent zugenommen. «Verschiedene Arbeitgebende haben gemerkt, wie missbräuchliche Lohnunterbietungen einfach und weitgehend straffrei an den Kontrollen vorbeigeschummelt werden können. Dies zeigt, dass die klaffenden Lücken beim Lohnschutz rasch und wirksam geschlossen werden müssen», so Johann Tscherrig, Vorsitzender der Geschäftsleitung der Gewerkschaft Syna. Die flankierenden Massnahmen müssen deshalb dringend gestärkt werden.