Eine Standesinitiative des Kantons St. Gallen will den Entwurf für das im Dezember 2016 vom Parlament verabschiedete Integrationsgesetz verschärfen. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, hält es nicht für nötig, ein bereits ausgehandeltes und vom Parlament verabschiedetes Gesetz noch vor dem Inkrafttreten infrage zu stellen. Einerseits verliert so die Gesetzgebungsarbeit an Glaubwürdigkeit und andererseits führen die geplanten Verschärfungen zu weiterem administrativem Aufwand für die kantonalen Behörden, ohne jedoch eine bessere Integration der Migrantinnen und Migranten zu begünstigen.
An der Frühjahrssession 2017 des Parlaments hat der Ständerat eine Standesinitiative des Kantons St. Gallen, die insbesondere die Integrationsbedingungen verschärfen will, mit 21 zu 19 Stimmen, entgegen der Empfehlung seiner Kommission, verabschiedet. Anschliessend hat auch die Staatspolitische Kommission des Nationalrates die Initiative mit einer sehr knappen Mehrheit von 12 zu 11 Stimmen angenommen. Im Moment wird diese Initiative mit dem Titel «Änderung des Ausländergesetzes. Mehr Verbindlichkeit und Durchsetzung des geltenden Rechts bei Integration, Sozialhilfe, Schulpflichten und strafrechtlichen Massnahmen» einer Kommission zugewiesen, die die erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen ausarbeiten wird.
Travail.Suisse erachtet es als beunruhigend, dass eine solche Initiative im Parlament eine so grosse Zustimmung gefunden hat, wenn man bedenkt, dass erst im Dezember 2016 das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) verabschiedet wurde. Das AIG ist noch nicht einmal in Kraft getreten und soll bereits verschärft werden. Darüber hinaus werden diese Verschärfungen die Arbeit der kantonalen Verwaltungen noch weiter erschweren, ohne auf eine bessere Integration von Migrantinnen und Migranten abzuzielen. Es sei ebenfalls darauf hingewiesen, dass die St. Galler Standesinitiative überholt ist. Denn mit ihrer Umsetzung zielt sie auf ein Gesetz ab, dass noch nicht geändert worden war. Die meisten Verschärfungen der Initiative wurden bereits in die Revision des AIG einbezogen.
Infrage gestellte Gesetzgebungsarbeit
Einige Parlamentarierinnen und Parlamentarier erachten die im Dezember 2016 verabschiedete Gesetzesrevision als ungenügend. Dieses Argument entbehrt aber jeder Grundlage, denn dieses Gesetz ist das Ergebnis von parlamentarischer Arbeit und einem Konsens, über die abgestimmt wurde. Dass dieses Gesetz noch vor dem Inkrafttreten – also bevor die konkrete Wirkung seiner Umsetzung beurteilt werden kann – infrage gestellt wird, untergräbt die Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Arbeit. Gleichzeitig schwächt sich das Vertrauen in diese Arbeit ab, da die parlamentarische Mehrheit für die Verabschiedung des Gesetzes in sehr kurzer Zeit, sogar bevor das Gesetz seine Wirkung entfaltet hat, verschwunden ist. Dieses Umschwenken einiger Volksvertreter, die das AIG angenommen, kurze Zeit später aber ihre Meinung geändert haben, trübt das Vertrauen und vermittelt den Eindruck, ein bereits genehmigtes Gesetz heimlich unter den Teppich kehren zu wollen. Während der parlamentarischen Beratungen wurde daran erinnert, dass die Vollzugsverordnungen für das im Dezember 2016 verabschiedete Gesetz noch in der Umsetzung seien. Auch die Beeinträchtigung der Rechtssicherheit wurde erwähnt: «Die Referendumsfrist läuft bis 7. April und Sie wollen das Gesetz bereits erneut revidieren. Wie kann die Rechtssicherheit als wertvollstes Gut von den Organen der Rechtsanwendung so überhaupt anerkannt werden?» Die Gründe, weshalb die St. Galler Standesinitiative eingereicht wurde, basieren auf einem speziellen Einzelfall. Die emotionale Reichweite der Initiative, die auf ein nebensächliches Ereignis zurückzuführen ist, ist ziemlich realitätsfremd in Anbetracht der allermeisten Fälle und entspricht folglich keinem echten Bedürfnis.
Die Gesetzgebungsarbeit wird infrage gestellt, nicht nur weil der Gesetzgebungsprozess überbrückt wird, bevor ein verabschiedetes Gesetz in Kraft tritt, sondern auch wegen der zu grossen Legitimität, die einer auf einem Einzelfall basierenden Initiative beigemessen wird. Es erscheint unverhältnismässig, auf einen Ausnahmefall mit der Verschärfung eines allgemein anzuwendenden Gesetzes zu reagieren.
Massnahmen zur Förderung der Integration müssen verstärkt werden
Abgesehen von der infrage gestellten Gesetzgebungsarbeit ist auch die Wirksamkeit der in der Initiative enthaltenen Massnahmen problematisch. Die Absicht, den Abschluss von Integrationsvereinbarungen mit Migrantinnen und Migranten obligatorisch und systematisch durchzuführen, ist sehr weit entfernt von der Realität in der Praxis. In den allermeisten Fällen braucht es keine solchen Vereinbarungen. Müssten mit allen Migrantinnen und Migranten automatisch Integrationsvereinbarungen abgeschlossen werden, würde dies zu einem unverhältnismässigen, für die kantonalen Behörden höchst unwillkommenen administrativen Aufwand führen. Von den fünf im Rahmen der St. Galler Standesinitiative vorgesehenen Massnahmen wurden drei bereits im Rahmen der Umsetzung des AIG diskutiert. Das AIG sieht vor, dass Integrationsvereinbarungen bei Bedarf und nicht systematisch abgeschlossen werden, dass eine Bewilligung widerrufen werden kann, falls die Vereinbarung ohne triftigen Grund nicht eingehalten wird, dass die Niederlassungsbewilligung in einigen Fällen durch eine Aufenthaltsbewilligung ersetzt werden kann, falls die Integrationskriterien nicht erfüllt werden. Diese Massnahmen stellen übrigens keinen direkten Anreiz für die Integration dar, sondern sind als mögliche Sanktionen gegenüber Migrantinnen und Migranten zu verstehen. Eine neue Verschärfung dieser Sanktionen ist nicht nötig, da sie auch einen Druck ausüben können, die der Integration abträglich ist. Doch das oberste Ziel der AIG besteht genau darin, die Integration zu fördern und die Kosten für die Sozialhilfe zu senken. Travail.Suisse geht in Anbetracht aller genannten Punkte davon aus, dass eine Verschärfung des AIG nicht gerechtfertigt ist. Der Schwerpunkt sollte auf Massnahmen zur Unterstützung und zur Förderung der Integration liegen. Die Finanzierung von Sprachkursen sowie die Unterstützung bei der Weiterbildung zur Wiedereingliederung oder zur Neuorientierung auf dem Arbeitsmarkt sind Beispiele für Massnahmen, die zu fördern sind. Die Verschärfungen der St. Galler Standesinitiative sind eher von der Absicht geprägt, die Einwanderung einzuschränken, als vom Willen, die Integration zu fördern. Folglich ist es unabdingbar, das AIG nicht seiner Bedeutung zu entleeren, indem neue restriktive Massnahmen aufgenommen werden, sondern Instrumente zu schaffen, die sich echt positiv auf die Integration der Migrantinnen und Migranten auswirken.