Praktikum: Zweischneidiges Schwert für junge Berufseinsteigende
Praktika als notwendiger und sinnvoller Schritt auf dem Weg zu einer Ausbildung oder dem Berufseinstieg? Praktika als prekäre und unterbezahlte Barriere auf dem Weg in den Arbeitsmarkt? Sprungbrett oder Falle? Die Beurteilung ist unklar, ebenso wie Zahlen, Fakten und Rahmenbedingungen. Travail.Suisse und seine Jugendkommission Jeunesse.Suisse fordern mehr Klarheit und mehr verbindliche Regeln in der Welt der Praktika.
Ein Praktikum ist ein sehr zweischneidiges Instrument auf dem Arbeitsmarkt. Einerseits kann es praktisches Wissen in einer theoretischen Ausbildung vermitteln, einen Einblick in berufliche Tätigkeiten ermöglichen oder den Berufseinstieg und den Aufbau des beruflichen Netzwerkes erleichtern. Allzu oft werden die jungen Erwachsenen in Praktikumsverhältnissen aber als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Sie führen monotone, repetitive Arbeiten ohne ersichtlichen Lerngewinn aus, werden nicht oder kaum betreut, erledigen die gleichen Arbeiten wie die übrigen Angestellten – einfach zu einem viel tieferen Lohn – oder werden mit falschen Versprechen für eine Festanstellung zu einer Verlängerung ihres Praktikumsverhältnisses überredet. Aus diesem Grund haben Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, und seine Jugendkommission Jeunesse.Suisse verschiedene Materialien zum Thema erarbeitet. Neben einem Positionspapier (pdf) existiert auch eine «Checkliste für ein erfolgreiches Praktikum» (pdf) sowie eine interaktive Präsentation, welche die Informationen in kondensierter Form aufbereitet und sich an die betroffenen jungen Erwachsenen richtet.
Ordnung im Wirrwarr – Was ist genau ein Praktikum?
Das Praktikum stellt keine eigene juristische Kategorie dar und es gibt auch keine einheitliche Begriffsdefinition. Der Schulabgänger, der auf der Suche nach einer Lehrstelle zum Fachmann Betreuung zuerst ein Praktikum in einer Kita absolviert. Die Absolventin des Lehrgangs zur Tourismusfachfrau HF, die zwischen vier theoretischen Schulsemestern ein einjähriges touristisches Praktikum absolviert. Die Studentin der Wirtschaftsinformatik an der Fachhochschule, die nach dem Abschluss ein einjähriges Praktikum in einem Telekomunternehmen beginnt. Der Uniabgänger mit einem Master in Sozialwissenschaften, der ein sechsmonatiges Praktikum in einer NGO bestreitet. Der Kaufmann, der nach dem Lehrabschluss ein durch das RAV vermitteltes Berufspraktikum zur Erweiterung der Berufserfahrung erhält. In all diesen Fällen wird von einem Praktikum gesprochen, die Ausgangslagen unterscheiden sich aber beträchtlich. Es lassen sich aber vier Kategorien von Praktika unterscheiden, die jeweils spezifische Problemstellungen und Herausforderungen enthalten.
Kategorie 1 umfasst Praktika, die vor dem Eintritt ins ordentliche (Berufs-)Bildungssystem stattfinden. Dabei sind sie oftmals (faktische) Voraussetzung, um überhaupt eine Lehrstelle zu erhalten. Am verbreitetsten ist diese Praxis in den Kindertagesstätten.
Zu Kategorie 2 gehören Praktika, die als Bestandteil während einer Aus- oder Weiterbildung fungieren. Diese Kategorie dürfte sehr verbreitet sei, allerdings liegen keine genauen Zahlen vor. Weitere Merkmale sind eine grosse Heterogenität, sowohl was die Tätigkeitsfelder als auch die Rahmenbedingungen der Praktika angeht (z.B. Tourismusfachperson HF, Handels- und Wirtschaftsmittelschulen im kaufmännischen Bereich, Gesundheits- und Sozialwesen usw.). Durch die Ausbildungsinstitutionen oder Gesamtarbeitsverträge dürften die Rahmenbedingungen weitestgehend geregelt sein und ein direkter Gegenwert der Praktika in Form der Qualifizierung der Ausbildung ist gegeben.
Zur Kategorie 3 zählen die Berufseinstiegspraktika. In diesen finden sich die grössten Problembereiche – etwa in Form von missbräuchlichen Löhnen und Quasi-Lohndumping. Allerdings bestehen grosse Unterschiede: Vom klassischen Lohndumping wie z.B. im Schreinergewerbe oder bei den Plattenleger/innen über eine Vielzahl von schlecht oder nicht bezahlten Praktika im NGO-Bereich bis zu Hochschulpraktika beim Bund (mit rund 4000 Franken Monatslohn) oder Trainee-Programmen bei staatsnahen Betrieben wie Swisscom und Postfinance, die nach Absolvierung praktisch eine Weiterbeschäftigung in Normalanstellung garantieren, zählt hier alles dazu. Probleme zeigen sich hier insbesondere in Form von fehlendem Lerngewinn, einer überlangen Dauer, ungenügender Entschädigung oder einer Verschiebung von «Einsteiger-Stellen» hin zu Praktika.
Kategorie 4 umfasst durch die Sozialversicherungen geförderte Praktika oder praktikumsähnliche Beschäftigungsverhältnisse. Diese können sowohl die berufliche wie auch die soziale Integration zum Ziel haben. Die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von Ausbildungs- und Berufspraktika in der Arbeitslosenversicherung oder im Bereich der Eingliederungsmassnahmen in der IV sind in den jeweiligen Spezialgesetzgebungen (AVIG und IVG) geregelt.
Problembereich Berufseinstieg für Hochschulabsolvent*innen
Gemäss den Hochschulabsolventenbefragungen des BfS aus den Jahren 2014 und 2018 befindet sich rund jede/r zweite Absolvent/in eines Masters an Universitäten ein Jahr nach dem Abschluss in einer befristeten Anstellung. 13 Prozent sind als Praktikant/in angestellt. Teilweise handelt es sich dabei um Praktika im Rahmen von weiterführenden Ausbildungen (z.B. Anwaltspraktikum), andererseits kann es aber auch auf eine problematische Integration von Hochschulabgänger/innen in den Arbeitsmarkt hindeuten. Auffällig ist insbesondere, dass sich fünf Jahre nach Abschluss noch immer mehr als ein Viertel (28%) der Uniabsolvent*innen in befristeten Anstellungen befinden, dass der Anteil der Praktikant*innen aber auf 1.2 Prozent gesunken ist. Auch wenn damit die These von der Praktikumsfalle bereits etwas widerlegt werden kann, bleiben einige Fragen offen. Zum Beispiel scheint der Zeitraum fünf Jahre nach der Ausbildung etwas lang gewählt zu sein und es ist unklar, wie das Bild beispielsweise drei Jahre nach Ausbildungsende aussieht. Denn wenn jemand nach erfolgreichem Uniabschluss drei Mal ein einjähriges Praktikum absolvieren muss, bevor sie oder er eine ordentliche Festanstellung findet, ist dies bereits als sehr problematisch zu bezeichnen.
Weiter ist denkbar, dass Hochschulabgänger*innen ihrer persönlichen Praktikumsfalle entgehen, indem sie nicht ausbildungsadäquate Festanstellungen annehmen. So geben fünf Jahre nach Abschluss immerhin 13.4% der Master-Absolvent*innen von Universitäten an, sich in einer nicht ausbildungsadäquaten Anstellung zu befinden. Bei Bachelor-Absolvent*innen von Fachhochschulen ist davon fast jede*r Dritte betroffen (31.2%). Aus Sicht der volkswirtschaftlichen Effizienz des Hochschulwesens erscheint dies problematisch. Ob allerdings ein Zusammenhang mit früheren Praktika existiert ist unklar – hier fehlen insbesondere weitergehende Untersuchungen der individuellen Ausbildungs- und Erwerbsverläufe beim Übergang in den Arbeitsmarkt. Weiter stellt sich die Frage der Entwicklung der Praktikasituation in der Schweiz. Eine Studie im Auftrag des SECO kommt zum Schluss, dass zwischen 2010 und 2016 im Bereich der atypisch-prekären Beschäftigung insbesondere die befristete Beschäftigung zugenommen hat und dass innerhalb dieses Bereiches der Zuwachs bei den Praktika am grössten ausgefallen ist.
Forderungen von Travail.Suisse
Für Travail.Suisse ist klar, dass die Situation der Praktika in der Schweiz und insbesondere deren Entwicklung genauer betrachtet werden muss. Der Ambivalenz von Praktika auf dem Arbeitsmarkt kann nur begegnet werden, indem vertieftere Daten und Wissen über Praktika in der Schweiz erarbeitet werden und auf der individuellen Ebene klare Kriterien und Regeln bei den Praktika verbindlich festgelegt werden und missbräuchliche Praktika kontrolliert und sanktioniert werden. Die Umsetzung der folgenden Forderungen ist zentral, damit ein Praktikum als erfolgreiches Scharnier zwischen Ausbildung und Berufseinstieg fungiert und nicht als demotivierende Einstiegserfahrung beim Start in die Arbeitswelt.
- Die Praktikasituation in der Schweiz muss genauer untersucht werden. Insbesondere die Verbreitung, die Rahmenbedingungen und die mittelfristigen Auswirkungen für die Absolvierenden sind zu wenig bekannt.
- Es braucht klare Regelungen, um missbräuchliche Praktika als Lohndumping zu deklarieren und zu sanktionieren.
- Es braucht Mindeststandards für Praktika in Bezug auf Bezahlung, Länge, Lernvereinbarung, Betreuung und übrige Rahmenbedingungen.
- Lernziele und die zuständige Betreuungsperson sind vor Praktikumsbeginn zu vereinbaren.
- Praktika sind zu bezahlen und sollten in der Regel mindestens die Lebenshaltungskosten decken.
- Der Ausbildungscharakter muss im Zentrum stehen. Daher sollten Praktika in der Regel nicht länger als 6 Monate dauern. Eine Dauer von mehr als 12 Monaten ist nur in begründeten Einzelfällen vertretbar.
- Es werden keine Einsteigerstellen durch Praktika ersetzt. Die zunehmende Bedeutung von Berufserfahrung ist zu begrenzen, resp. Ausbildungszeit als Berufserfahrung anzuerkennen.
- Verlängerungen von Praktika darf es nur in begründeten Ausnahmefällen, resp. verbindlicher Aussicht auf eine Festanstellung, geben.