Bilaterale III: Sicherung des Schweizer Lohnschutzes ist entscheidend
Nach der Ablehnung des institutionellen Rahmenabkommens im Mai 2021 durch den Bundesrat, soll nun der Weg über Verhandlungen zu einer Neuauflage der bilateralen Verträge mit einem neuen Paket an Verträgen «Bilaterale III» zum Erfolg führen. Im Auftrag des Bundesrates sondiert das Aussendepartement mit der Europäischen wie ein neues Paket an Abkommen zwischen der EU und der Schweiz aussehen könnte. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, ist im Sounding Board unter der Leitung von Bundesrat Cassis vertreten und kann auf diesem Weg direkt die Interessen der Arbeitnehmenden einbringen. Nur wenn der Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen gewährleistet bleibt, der Service public nicht gefährdet wird und die Arbeitnehmenden einen Nutzen sehen, haben die «Bilateralen III» bei einer künftigen Volksabstimmung eine Chance.
Staatssekretärin Livia Leu hat seit dem Scheitern des Rahmenabkommens bereits sieben Sondierungsgespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der Europäischen Union geführt. Dabei wird ausgelotet, welche Themen in einem künftigen Paket von bilateralen Abkommen behandelt werden und über welche Inhalte verhandelt werden soll. Fallen die Sondierungen für beide Seiten positiv aus, wird auf beiden Seiten ein Verhandlungsmandat beschlossen und die eigentlichen Verhandlungen zur Ausarbeitung neuer Verträge beginnen. Bereits in der Sondierungsphase tauschen sich beide Seiten intensiv aus und lernen die gegenseitigen Standpunkte besser kennen. Auf technischer Ebene haben beide Seiten gar wöchentliche Sitzungen. Nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen – von Travail.Suisse damals als guter Entscheid taxiert – haben die Gespräche zwischen der EU und der Schweiz mittlerweile wieder an Fahrt aufgenommen. Diverse Themen werden erörtert, nicht nur die institutionellen Fragen wie die Rechtsübernahme oder die Streitschlichtung, auch Abkommen im Bereich der Gesundheit oder der Lebensmittelsicherheit für Produkte nichttierischer Herkunft werden besprochen. Ende März will der Bundesrat eine weitere Standortbestimmung vornehmen. Er hat drei Optionen: Sondierungen abbrechen, Sondierungen weiterführen oder ein Verhandlungsmandat beantragen, um die Verhandlungsphase zu beginnen.
Für Travail.Suisse sind die Fragen im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit, dem Lohnschutz und den staatlichen Beihilfen von zentraler Bedeutung. Dabei ist die Position weiterhin klar: Travail.Suisse unterstützt die Personenfreizügigkeit mit der EU, wenn starke flankierende Massnahmen den Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen in der Schweiz garantieren. In den Verhandlungen muss der Bundesrat deshalb erreichen, dass die Schweiz auch mit einem neuen Abkommen den Lohnschutz eigenständig ausgestalten kann. Die EU hat bereits bedeutende Schritte unternommen, um den Lohnschutz in ihren Mitgliedsstaaten zu verbessern. Für Travail.Suisse ist es zentral, dass die Schweizer Diplomatie und die Schweizer Politik weiterhin erkennen, dass die Unterstützung der Bevölkerung für ein neues Paket von bilateralen Verträgen nur erreicht werden kann, wenn der Lohnschutz gesichert bleibt. Das hohe Lohnniveau und die vernetzte Lage der Schweiz machen einen solchen unabdingbar. Er darf nicht Gegenstand der Verhandlungen werden und für andere Interessen geopfert werden. Dass Travail.Suisse bereit ist, über technische Anpassungen wie die 8-Tage-Regel zu sprechen, haben wir bereits bekräftigt. Solche technischen Anpassungen sollten es ermöglichen, dass der Schweizer Lohnschutz die Entsende- und die Durchsetzungsrichtlinie erfüllt. Dafür braucht es klare Garantien seitens der EU, die auch bereits in den Sondierungen erkennbar sein müssen. Diese Garantien müssen von der EU in den Sondierungen in Aussicht gestellt werden, die Schweiz darf nicht bereits vor den Verhandlungen Kompromisse eingehen. Das Ziel muss sein, der EU klarzumachen, dass der Schweizer Lohnschutz verhältnismässig, nichtdiskriminierend und im Einklang mit der Entsende- und Durchsetzungsrichtlinie ist. Gleichzeitig müssen die Probleme beim Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen angegangen werden. Gerade in den Grenzkantonen ist die Situation kritisch, was neue Antworten erfordert. Auch darüber gilt es zu sprechen.
Anders als beim Rahmenabkommen präsentiert sich die Situation bei den staatlichen Beihilfen. Dabei handelt es sich um Steuererleichterungen und Begünstigungen für Unternehmen oder Produktionszweige, die den von der EU gewünschten Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen und deshalb in der EU grundsätzlich verboten sind. Die EU stellt in diesem Bereich offenbar diverse Forderungen an die Schweiz. Die Schweiz kennt staatliche Beihilfen allen staatlichen Ebenen. Gemeinden, Kantone und auch der Bund besitzen Unternehmen oder bieten Leistungen an. Mit Zugeständnissen im Bereich des Service public muss der Bundesrat vorsichtig sein. Allfällige erzwungene Liberalisierungen betrachtet Travail.Suisse als grosses Hemmnis bei der Suche nach Lösungen. Das Thema staatliche Beihilfen zeigt, dass es für den Erfolg eines weiteren Abkommens wichtig ist, auch im Inland gut und detailliert abzuklären, welche Auswirkungen zu erwarten sind und welche Änderungen tatsächlich nötig sind. Sondieren im Inland ist ebenso wichtig und benötigt Zeit.
Trotz aller Skepsis: Travail.Suisse unterstützt die Personenfreizügigkeit. Wir erinnern uns an das unmenschliche Kontingentssystem, das genau nach dem Gusto der Wirtschaft Arbeitskräfte in die Schweiz holte und sie hier ohne Familien und ohne ausreichende Rechte leben liess. Wer im 21. Jahrhundert in der Schweiz wieder Saisonniers will, die ihren Arbeitgebenden ausgeliefert sind, zeigt sein wahres Gesicht. Travail.Suisse setzt sich für eine menschenwürdige Arbeitswelt ein. Es soll keine Zweiklassengesellschaft geben, mit Menschen, die an ihre Arbeit gebunden leben und jederzeit nach Verwendung wieder abgeschoben werden können. Die meisten Unternehmen in der Schweiz leben glücklicherweise eine andere Unternehmenskultur.
Die Schweiz muss sich für die Vorbereitungen auf diese Verhandlungen die nötige Zeit nehmen. Wer aufs Gaspedal drückt und zeitlichen Druck aufbaut, schwächt nur die Position der Schweiz. Es ist deshalb ein Rätsel, warum die zuständige aussenpolitische Kommission des Nationalrates derart Druck aufbaut und parallel zum Bundesrat in intensivem Austausch mit den Mitgliedern des Europäischen Parlaments steht. Druck macht auch die Wissenschaft und Forschung, was verständlich ist. Dass die EU die Schweiz beim Forschungsabkommen Horizon ausschliesst, ist nicht korrekt und wird von Travail.Suisse bedauert. Allerdings kann die Schweizer Forschung bei erfolgreichem Abschluss neuer Verträge sicher wieder mitmachen, der Ausschluss ist temporär. Eine Verschlechterung beim Lohnschutz durch «Bilaterale III» wäre für die Arbeitnehmenden nicht temporär und eine Hypothek bei einer Volksabstimmung.
Der Bundesrat muss erkennen, dass die neuen Verträge auch der Bevölkerung einen Nutzen bringen. Dass Argumente wie «die Verträge dienen der Wirtschaft» oder «die Verträge schaffen Arbeitsplätze» in einem Abstimmungskampf nicht mehr ausreichen, haben wir in diversen Abstimmungen gesehen. Die EU hat mit dem Austritt von Grossbritannien, dem Brexit, verstanden, dass die europäische Integration nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale sein muss. Mit dem Pfeiler sozialer Rechte hat die EU der Bevölkerung konkrete Verbesserungen aufgezeigt. Bundesrat und Parlament tun für den Erfolg der «Bilateralen III» gut daran, der Schweizer Wirtschaft nicht nur den Zugang zum grossen EU-Markt zu sichern, sondern der Bevölkerung auch konkrete Verbesserungen in Aussicht zu stellen. Die EU sieht diverse Massnahmen vor, eine ist die Mindestlohn-Richtlinie, welche die Einführung eines auf das jeweilige Lohniveau angepassten Mindestlohnes oder die Förderung von Gesamtarbeitsverträgen vorsieht. Eine Mehrheit von Bundesrat und Parlament wissen, wie es geht: Die Massnahmen zur Förderung des inländischen Fachkräftepotentials im Vorfeld der Abstimmung über die Begrenzungsinitiative haben gezeigt, wie auch die «Bilateralen III» in einer Volksabstimmung erfolgreich sein können. Es braucht deshalb auch im Inland weitere «Sondierungen» und Verhandlungen.