Die aktuellste Enzyklika von Papst Franziskus mit dem Titel «Laudato si’ – über die Sorge für das gemeinsame Haus» beschäftigt sich mit ökologischen Fragen. Im November lud das aktuelle Oberhaupt des Vatikans Gewerkschaften aus der ganzen Welt nach Rom ein, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie die Gewerkschaftsbewegung in diesem Rahmen erneuert und gestärkt werden kann. Travail.Suisse wohnte den Debatten bei. Ein Protokoll.
Wer erinnert sich noch an die Enzyklika «Rerum novarum» von Papst Leo XIII.? Ausserhalb der Mauern des Vatikans und der Lehrstühle für Theologie und Geschichte dürfte dieser Text, der die soziale Doktrin der römisch-katholischen Kirche begründete, nicht mehr vielen im Gedächtnis sein. Für Travail.Suisse ist der Ende des 19. Jahrhunderts (1891) veröffentlichte Text insofern von Bedeutung, als er das Fundament der christlichen Gewerkschaftsbewegung in der Schweiz, in Europa und in der Welt legte. Die Schweiz leistete einen wichtigen Beitrag dazu: Inspiriert wurde Leo XIII. von den Arbeiten der «Sozialen Vereinigung für katholische und wirtschaftliche Studien», kurz «Union de Fribourg», einer sehr aktiven Reflexionsgruppe unter der Leitung des Bischofs von Lausanne und Genf. Damals wurden in Deutschland, England und Frankreich die Auswüchse von Kapitalismus und Industrialisierung angeprangert, die eine neue Klasse benachteiligter Menschen – die Arbeiterinnen und Arbeiter – hervorgebracht hatten. Es war die Geburtsstunde der «sozialen Frage». Im Zuge der Aktivitäten der Union de Fribourg entstand auch die Universität Freiburg (1889). Die Enzyklika «Rerum novarum» ermutigte die christliche Gewerkschaftsbewegung.
Die christlich-sozialen Wurzeln von Travail.Suisse
Es ist interessant, sich von Zeit zu Zeit Folgendes ins Bewusstsein zu rufen: Travail.Suisse ist aus der Fusion des Christlichnationalen Gewerkschaftsbunds der Schweiz CNG und der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände VSA entstanden. Dies ermöglichte 2003 die Bildung einer einzigen unabhängigen schweizerischen Dachorganisation, welche die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertritt. Durch die Fusion verschwand der direkte Hinweis auf das christliche Gedankengut im Namen, diese Werte sind jedoch nach wie vor aktuell, und zu Travail.Suisse gehören auch die Tessiner Organizazzione cristiano-sociale ticinese OCST sowie die Interprofessionelle Christliche Gewerkschaft Wallis SCIV.
Im Juni 2015 setzte Papst Franziskus das Werk seiner Vorgänger fort, indem er seine Enzyklika «Laudato si’» (Altitalienisch für «Gelobt seist du») veröffentlichte, deren Titel den Sonnengesang von Franz von Assisi aufnimmt . Enzykliken sind ein seit Ende des 19. Jahrhunderts von der Kirche häufig benutztes Kommunikationsmittel, wobei diejenige von Benedikt XIV. (Ubi primum, 1740) als erste moderne Enzyklika gilt. Konkret handelt es sich um ein feierlich formuliertes Kreisschreiben von universeller Dimension, das der Bischof von Rom an die Erzbischöfe und Bischöfe der katholischen Welt richtet, aber auch an alle christlichen Gläubigen. In diesem Text legt der Papst seine Position zu einem bestimmten Thema dar: «Laudato si’» spricht von einer ganzheitlichen Ökologie, aber vor allem von der Bewahrung der Schöpfung, nicht mehr und nicht weniger.
Jeder Epoche ihr Friedensbegriff
Jede Enzyklika ist auch Spiegelbild ihrer Epoche. Paul VI. teilte den Fortschrittsglauben. In «Populorum progressio» zeigte er sich 1968 überzeugt, dass alle Völker an der Entwicklung teilhaben können. Friede bedeutet hier Entwicklung. Doch dies sollte sich als Irrtum erweisen.
Johannes Paul II. stellt mit Schmerz und Trauer fest, dass die Entwicklung das Problem der Ungleichheit und des Ausschlusses gewisser gesellschaftlicher Gruppen nicht löste. In «Laborem exercens» hielt er 1981 fest, dass die Nutzenverteilung der Indikator für soziale Gerechtigkeit ist. «Durch Arbeit muss sich der Mensch sein tägliches Brot besorgen, und nur so kann er beständig zum Fortschritt von Wissenschaft und Technik (…) beitragen.» Friede bedeutet nun Solidarität.
Nach ihm vertritt Benedikt XVI. in «Caritas in veritate» (2009) die Ansicht, dass die Technologie das soziale Problem lösen werde. Friede bedeutet nun Barmherzigkeit als Gegenstück zu Globalisierung, Finanzkrise und Gesellschaftskrise.
Franziskus sieht unser «gemeinsames Haus» in einem verheerenden Zustand
Papst Franziskus stellt die Verbindung zwischen Ökologie und Armut her, den grössten Problemen der heutigen Zeit. Sein Fazit zum Zustand der Erde ist verheerend: Verschmutzung und Klimawandel, Verknappung des Trinkwassers und Verlust von Biodiversität bewirken unweigerlich eine Verschlechterung der Lebensqualität der Menschen, vor allem aber eine gesellschaftliche Zerrüttung. Neue Ungleichheiten entstehen und kommen zu den bestehenden hinzu. Der technische Fortschritt im Nuklearbereich sowie in Biotechnologie und Informatik verleihen einer kleinen Elite unangemessen viel Macht. Nichts gewährleistet, dass diese Entwicklungen dem Wohl der Menschheit als Ganzes zugute kommen. Franziskus könnte somit als erster «ökologischer» Papst bezeichnet werden. Wenn man die Augen nicht verschliesst vor dem heutigen Zustand der Welt, gibt es keine Ausflüchte. Wir alle müssen Sorge tragen zum «gemeinsamen Haus». Es geht ums Überleben der menschlichen Art, einer Schöpfung Gottes.
Der Papst plädiert für eine umfassende Ökologie, die alle Gruppen der Bevölkerung und sowohl die menschlichen als auch die gesellschaftlichen Dimensionen einbezieht. Natur und Arbeit sind nicht nur Rohstoffe oder Waren (Commodity). Er spricht von einem neuen ökologischen Paradigma: Die wirtschaftliche Entwicklung schade der Umwelt, und es liege an den öffentlichen Gemeinwesen, zugunsten des gemeinsamen Wohls zu intervenieren. Er ermutigt zum Dialog – zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen Regierungen und Nichtregierungsorganisationen, zwischen reichen und armen Ländern usw. In diesem Geist lud er auch die nationalen Gewerkschaftsbewegungen der ganzen Welt am 23. und 24. November 2017 zu einem Kolloquium in Rom mit dem Titel «Arbeit und Arbeiterbewegung im Zentrum einer ganzheitlichen, nachhaltigen und solidarischen Entwicklung der Menschheit».
«Der Algorithmus ist der neue Personalchef»
An der Veranstaltung gab es zahlreiche sehr interessante Präsentationen. Zu hören waren unter anderem der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamts (ILO), Guy Rider, die Wirtschaftswissenschafter Riccardo Petrella von der Katholischen Universität Löwen, Enrico Giovannini von der Universität Roma Tor Vergata oder der Wirtschaftshistoriker Geatano Sabatini von der Universität Roma Tre. Die Vertreterinnen und Vertreter der nationalen Gewerkschaftsbünde brachten ihre Ideen ebenfalls ein, beispielsweise mit Philip Jennings von UNI Global Union oder Luca Visentini vom Europäischen Gewerkschaftsbund EGB. Zahlreiche nationale Verbände wie Brasilien, Belgien, Senegal, Argentinien, USA, Grossbritannien oder Italien beteiligten sich an den Expertengesprächen.
Verurteilt wurde dort die unangemessene Macht der transnationalen Unternehmen, die mehr Einfluss haben als Staaten und die Gewerkschaften bekämpfen und zerstören. Weiter wurde bedauert, dass Algorithmen die neuen Personalchefs sind und dass Sklaverei und Menschenhandel einen Aufschwung erleben. Es wurde an die Konzentration des Reichtums in den Händen von einigen wenigen erinnert: Die reichsten acht Personen besitzen heute gleich viel wie 3,6 Milliarden Menschen. Eine Reform der Steuersysteme sei notwendig.
Kardinal Peter Turkson, der die Debatten leitete, rief die Gewerkschaften dazu auf, sich kreativ zu zeigen, um neue Formen der Solidarität zu finden. Er erinnerte auch daran, dass Arbeit in der Antike von Sklaven und Tieren verrichtet wurde, während mit der Entstehung des Christentums die Menschen sich dieser annahmen und Gottes Werk weiterführen konnten. Bei der industriellen Revolution setzte sich die Kirche gegen die Ausbeutung der Menschen durch Maschinen ein. Heute geht es darum, «die Arbeit vor der Technologie zu retten», die den Menschen die Arbeit wegnimmt. Die Arbeit 4.0 ist ein Thema, das auch die Kirche beschäftigt. Denn die Arbeit verleiht dem Menschen Würde. Diese Mission verfolgt auch das von Travail.Suisse gegründete Hilfswerk Brücke – Le Pont, das mit seinen Projekten in Lateinamerika und Afrika den Menschen durch Arbeit ihre Würde zurückgibt .
Die Antwort der Gewerkschaften auf die Enzyklika
Der Beitrag der Gewerkschaften besteht in einem Positionspapier, das die Aussagen der Enzyklika von Papst Franziskus ergänzen und teilweise erweitern will. «Die Gewerkschaften müssen den Arbeitnehmenden als Scheinwerfer zur Wahrnehmung bestehender Rechte dienen und gleichzeitig als Kompass, um neue zu identifizieren». Damit sich dies umsetzen lässt, sind Erziehung und Bildung wichtig, auch in den Rängen der Gewerkschaften, ebenso die Arbeit an einer globalen Gewerkschaftsbewegung. Die Gewerkschaften müssen zusammenarbeiten und voneinander lernen, damit sie eine weltweite Bewegung bilden können. Dialog und soziale Partnerschaft sind fortzusetzen und überall zu fördern – insbesondere jedesmal, wenn jemand versucht, diese zu spalten und einen Keil zwischen Arbeitnehmende und Gewerkschaftsvertretungen zu treiben.
Das Positionspapier der Gewerkschaften schliesst mit folgenden Worten: «Der soziale Gedanke der Kirche (…) will inspirieren, ein Fundament bilden, eine Anleitung zum Handeln sein. (…) Es ist ein Proviant für unterwegs. Es ist weder der Anfang noch der Abschluss einer Erfahrung. Es ist eine Einladung. Ein Aufruf, Bisheriges zu überdenken und Neues zu schaffen.»
Über die Frage des persönlichen Glaubens hinaus werden die Gewerkschaften im Allgemeinen – einschliesslich Travail.Suisse und die Mitgliedsverbände – profitieren, wenn sie die Gedanken von Papst Franziskus in ihre Referenz- und Arbeitsinstrumente einbeziehen.