Ende September findet in Paris der Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) statt, der alle vier Jahre abgehalten wird. Themen sind eine gerechte Gesellschaft, qualitativ gute Arbeitsplätze und die Rechte der Arbeitnehmenden. Der EGB wird ein Manifest und ein Aktionsprogramm für die kommenden vier Jahre verabschieden. Ausserdem wird der Kongress Gelegenheit bieten, darüber zu diskutieren, welchen Auftrag die europäische Gewerkschaftsdachorganisation hat und mit welchen Mitteln und Methoden sie ihren Einfluss bei den europäischen Institutionen stärken kann.
Der letzte Kongress des EGB fand im Mai 2011 in Athen statt und stand im Zeichen der Mobilisierung gegen die Sparpolitik und für ein soziales Europa. Leider ist nach vier Jahren festzustellen, dass sich die soziale und wirtschaftliche Lage in Europa keineswegs günstig entwickelt hat: Der Kontinent hat gerade erst auf einen Wachstumspfad zurück gefunden, und dieser ist unsicher und vor allem nicht steil genug, um die Arbeitslosigkeit wesentlich zu reduzieren.
Die Zahlen untermauern dies: Die Arbeitslosenquote erreichte 2013 mit 26,6 Millionen Personen ein Rekordniveau; 5,6 Millionen davon waren weniger als 25 Jahre alt. Griechenland und Spanien sehen sich mit Arbeitslosenraten von gegen 25 Prozent konfrontiert. Zugenommen haben auch Phänomene wie Working Poor, unfreiwillige Teilzeitarbeit, Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse sowie die Ungleichheiten innerhalb und zwischen nationalen Arbeitsmärkten. Überdurchschnittlich stark von der Krise und deren Folgen betroffen sind weiterhin Frauen, Jugendliche, ausländische Arbeitskräfte, Behinderte und besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen. 1
Ein Aktionsprogramm mit drei Pfeilern
In diesem äusserst schwierigen Umfeld plant der EGB, an seinem Kongress ein auf drei Pfeilern beruhendes Aktionsprogramm zu verabschieden, um mehr Einfluss auf die europäischen Institutionen nehmen zu können. Das Ziel des ersten Pfeilers ist eine starke Wirtschaft, die im Dienste der Bevölkerung steht. Der EGB verlangt dazu ein lohnbasiertes Impulsprogramm und ein 10-jähriges Investitionsprogramm im Umfang von 2 Prozent des BIP, um qualitativ gute Arbeitsplätze zu schaffen. Ein hoher Stellenwert wird dabei grünen Stellen eingeräumt, da die Entwicklung von nachhaltigen Energiesystemen immer dringender wird.
Der Kongress des EGB findet am gleichen Ort statt wie im Dezember 2015 die UNO-Klimakonferenz. Der Europäische Gewerkschaftsbund engagiert sich für eine Reduktion der Treibhausgase um 40 Prozent bis 2030, aber auch für eine gerechte Übergangsphase. Denn der Kampf gegen die Klimaerwärmung kann gewisse Wirtschaftsbranchen in Schwierigkeiten bringen. Arbeitnehmende, die ihre Stelle verlieren, sind deshalb durch Ausbildungs- oder berufliche Umschulungsmassnahmen zu unterstützen.
Der zweite Pfeiler will stärkere Gewerkschaften, welche die demokratischen Werte und die Demokratie am Arbeitsplatz verteidigen. Hier geht es darum, die Systeme der Kollektivverhandlung zu stärken, denn diese wurden durch die Krise geschwächt. Der EGB lehnt jegliche Einmischung der Behörden in den Sozialdialog ab. Auch das Streikrecht ist zu respektieren, und es braucht auf Verlangen der Gewerkschaften gesetzliche Mindestlöhne, die in Absprache mit den Sozialpartnern festzulegen sind.
Ziel des dritten Pfeilers ist ein Sockel von ehrgeizigen Sozialstandards. Hauptelement dieses Pfeilers ist die Forderung nach einem Protokoll, das die EU-Verträge ergänzt und Europa soziale Fortschritte bringt, indem es Sozialdumping verhindert und bekräftigt, dass die Grundrechte Vorrang vor den Wirtschaftsfreiheiten haben. Die Richtlinie zur Entsendung von Arbeitnehmenden muss so revidiert werden, dass das Gleichbehandlungsprinzip – d.h. gleicher Lohn am gleichen Arbeitsort – gewährleistet ist. Der EGB unterstützt den freien Personenverkehr im Sinne der Gleichbehandlung, betont aber, dass die Arbeitgeber diesen nicht instrumentalisieren dürfen, um die nationalen Normen herabzusetzen und mehr prekäre Stellen zu schaffen.
EGB muss proaktiver und offensiver werden
In den vier Jahren seit 2011 war der EGB eher in der Defensive und eher am Reagieren als offensiv und proaktiv. Der Grund dafür lag darin, dass das schwierige Wirtschaftsumfeld und vor allem der Sparkurs nur wenig Spielraum liessen. Das Dokument zur Rolle des EGB im Rahmen des Mandats 2015-2019, das ebenfalls Thema am Kongress von Paris sein wird, bezweckt eine Neuausrichtung mit einem proaktiveren EGB, der in der Lage ist, mehr Einfluss auf die Agenda Europas zu nehmen. Falls der Aufschwung in Europa anhält, wird sich der EGB in einem günstigeren Kontext weiterentwickeln können. Wichtig ist aber auch, dass die nationalen Gewerkschaften ihren Mitgliederschwund bremsen. Einen starken EGB kann es nur geben, wenn die Branchenverbände und die nationalen Gewerkschaften, aus denen er besteht, ebenfalls stark sind.
Mit Hollande und Juncker
Eröffnet wird der Kongress mit Beiträgen von François Hollande, Präsident der Französischen Republik, Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, und Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments. Die Teilnahme dieser hochrangigen europäischen Persönlichkeiten zeigt, dass dem EGB im europäischen Aufbauprozess eine gewichtige Rolle zuteilwird. Es ist zu hoffen, dass diese Beiträge dem EGB zusätzliche Impulse verleihen, sodass er seinen Auftrag für ein sozialeres, gerechteres Europa umsetzen kann, das den Anliegen der Arbeitnehmenden in ganz Europa Rechnung trägt.
Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) in Kürze
Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) wurde 1973 gegründet und besteht aus 90 nationalen Gewerkschaften aus 39 europäischen Ländern und 10 europäischen Gewerkschaftsverbänden. Das Hauptziel des EGB besteht darin, den Arbeitnehmenden in Europa eine Stimme zu geben, in erster Linie bei der Europäischen Union. Der EGB engagiert sich in Form von Lobbying bei europäischen Institutionen, insbesondere bei der Europäischen Kommission und beim Europäischen Parlament, und nimmt Stellung zu den meisten europäischen Gesetzen, die im engeren oder weiteren Sinn die Interessen der Arbeitnehmenden in Europa betreffen.