Keine öffentlichen Gelder für Belästiger!
Ein Drittel aller Arbeitnehmenden in der Schweiz – Frauen wie Männer – haben in den letzten zwölf Monaten sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt, und fast die Hälfte aller Arbeitnehmenden wurde mindestens einmal in ihrem Berufsleben sexuell belästigt. Dennoch, und obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet wären, ergreifen zwei Drittel aller Unternehmen keine Massnahmen, um ihre Mitarbeitenden vor sexueller Belästigung zu schützen.
2008 hat der Bundesrat einen Bericht zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz veröffentlicht. Diesem sind die schockierenden Zahlen zu entnehmen, welche deutlich zeigen, wie verbreitet sexuelle Belästigung in der Arbeitswelt ist. Leider ist dies bis heute die einzige offizielle Studie des SECO zu diesem Thema geblieben.
Auswirkungen auf Individuum, Wirtschaft und Gesundheitssystem
Der damalige Bundespräsident, FDP-Bundesrat Pascal Couchepin, wies bei der Veröffentlichung des Berichts darauf hin, dass diese Situation auch erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen habe. Opfer von sexueller Belästigung haben mehr Absenzen als ihre Kolleginnen und Kollegen, die von den verschiedenen Arten von Belästigung verschont bleiben. Sie fliehen von ihrem Arbeitsplatz, um sich vor ihren Belästigern zu schützen. Sexuelle Belästigung hat natürlich in erster Linie Auswirkungen auf die oder den Betroffenen, gleichzeitig aber auch für unsere Wirtschaft und unser Gesundheitssystem.
Der Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens stellt hier keine Ausnahme dar. Öffentliche Aufträge machen einen grossen Teil unserer Wirtschaft aus und werden mit dem Geld der Bevölkerung finanziert. Diese Aufträge müssen daher bestimmten Grundsätzen entsprechen, damit sie im Einklang mit den Regeln unseres Rechtsstaats abgeschlossen werden können. Der Schutz von Arbeitnehmenden ist einer dieser Grundsätze. Am Arbeitsplatz erlebte Belästigung ist jedoch sehr schwer anzuzeigen und zu verhindern, wenn sich die Gewalt erst einmal etabliert hat. Unternehmen, die öffentliche Gelder erhalten, müssen daher sicherstellen, dass sie im Einklang mit ihrer Verpflichtung zum Schutz ihrer Angestellten handeln, indem sie einen wirksamen Schutz vor Belästigung sicherstellen.
Erfolg im Nationalrat
Der Nationalrat hat dieses Thema in der Sondersession vom Mai 2022 diskutiert. Drei Geschäfte mit dem Ziel eines besseren Schutzes der Arbeitnehmenden gegen sexuelle Belästigung standen auf der Tagesordnung: Eine Motion der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK-N), um bestehende Lücken bei der Einhaltung sozialer Mindeststandards zu schliessen, meine parlamentarische Initiative zur Anpassung des Gesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen in Bezug auf sexuelle Belästigung, sowie eine Motion der WAK-N, die diese Idee aufnimmt, jedoch in der entsprechenden Verordnung verankern will. Die parlamentarische Initiative wurde zugunsten dieser beiden Motionen, die vom Nationalrat angenommen wurden, zurückgezogen.
Das Ziel besteht darin, keine öffentlichen Gelder an Unternehmen zu vergeben, die sich nicht an die Spielregeln halten. Die Annahme dieser beiden Motionen durch den Nationalrat, die den Schutz von Arbeitnehmenden erhöhen soll, ist sehr zu begrüssen!
Gesetzlicher Rahmen fehlt
Gleichzeitig muss daran erinnert werden, dass sexuelle Belästigung in allen Lebensbereichen stattfindet, am Arbeitsplatz wie auch anderswo. Im weiteren Sinne kann sie definiert werden als Handlungen oder Worte mit sexuellem Bezug, die einer anderen Person ohne deren Zustimmung aufgezwungen werden. Dabei kann es sich um Worte, Blicke oder Gesten sexueller Natur handeln, aber auch um Berührungen oder Fotos, Geschenke oder Bilder sexueller Natur. Sexuelle Belästigung gehört somit zur Gruppe der sexistischen und sexuellen Gewalt.
Die 2020 veröffentlichten Zahlen der Organisation EyesUp gegen sexuelle Belästigung zeigen, dass 97% der belästigten Personen Frauen aller Altersgruppen sind. Gemäss einer Umfrage von gfs.bern für Amnesty International Schweiz aus dem Jahr 2019 haben mehr als die Hälfte (59 %) aller Frauen Belästigungen in Form von unerwünschten Berührungen, Umarmungen oder Küssen erlebt.
In der Schweiz gibt es jedoch keinen gesetzlichen Rahmen, der sich explizit mit sexueller Belästigung im Allgemeinen und in allen Lebensbereichen befasst. Stattdessen gibt es mehrere Gesetzestexte, die vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz schützen sollen, andererseits werden bestimmte Handlungen der sexuellen Belästigung in anderen Zusammenhängen (verbale und körperliche Angriffe usw.) durch verschiedene Artikel des Strafgesetzbuches abgedeckt.
Aufnahme ins Strafgesetzbuch
Es ist bedauerlich, dass es in unserem derzeitigen Strafrecht an Rechtsvorschriften zu sexueller Belästigung mangelt. Die geltenden Gesetze, auf die sich die Opfer stützen können, sind zu vage und zu realitätsfremd. Es muss zwischen den verschiedenen Artikeln des Gesetzbuchs jongliert werden, um sich den Handlungen, die den Belästigern vorgeworfen werden, ungefähr anzunähern. Dabei kann der regelmässige und systematische Charakter dieser Handlungen nicht adressiert werden. Und das hat Folgen: 80% der Beschwerden über Belästigung am Arbeitsplatz bleiben erfolglos. Auch verhindert der lückenhafte Gesetzesdschungel, dass viele der Belästigungen auf offener Strasse, denen fast 70% der Frauen und Mädchen zum Opfer fallen, überhaupt geahndet werden. Weder die Polizei noch die Behörden noch die Opfer selbst haben die Mittel dazu.
Aus diesen Gründen muss sexuelle Belästigung als eigenständiges Delikt in das Schweizerische Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Die im Parlament laufende Revision des Sexualstrafrechts (Beginn der Beratungen im Ständerat in der Sommersession 2022) wäre eine echte Chance, einen eigenen Artikel zur sexuellen Belästigung zu verankern – eine Chance, die bisher noch nicht genutzt wurde. Aber die Zivilgesellschaft wacht und hält den Druck aufrecht, damit in diesem Bereich konkrete Fortschritte erzielt werden!