Frauen, Scheidung und beruflicher Wiedereinstieg: «An die Arbeit!»
Die jüngsten Klarstellungen des Bundesgerichts zu Fragen des Scheidungsrechts beschleunigen die Bewusstseinsbildung in Bezug auf die schwierige Wiedereingliederung der Frauen in den Arbeitsmarkt. Ein Thema, mit dem sich Travail.Suisse schon seit Langem befasst. Nach einer Scheidung wird jetzt von Frauen, die während vielen Jahren ausschliesslich als Hausfrau und Mutter tätig waren, erwartet, dass sie auch dann ins Berufsleben zurückkehren, wenn sie bereits über 45 Jahre alt sind. Die Abkehr von der «45er-Regel» ist ein Paradigmenwechsel, dessen Kollateraleffekte in den jüngsten Entscheidungen von Regierung und Parlament schon heute deutliche Spuren hinterlassen.
Die jüngsten Urteile des Bundesgerichts haben hohe Wellen geschlagen. Die höchste gerichtliche Instanz des Landes treibt die im Jahr 2018 begonnene Anpassung der Rechtsprechung im Familienrecht weiter voran (1).
Das Bundesgericht hat verschiedene Klarstellungen vorgebracht, insbesondere hinsichtlich der Berechnung der Unterhaltsbeiträge nach einer Scheidung oder einer Trennung. So soll fortan eine einheitliche Methode angewendet werden. In der Tat wurden die Alimente aus dem Familienrecht (Alimente für Kinder, unter geschiedenen Eheleuten) bisher je nach Kanton, in dem das Verfahren durchgeführt wurde, auf unterschiedliche Art berechnet. Die Festlegung dieser Beiträge basiert auf einer zweistufigen Berechnung, nach der Methode des Existenzminimums mit anschliessender Aufteilung des Überschusses, sofern ein solcher vorhanden ist.
Diese Entscheide wurden von Juristen, Anwälten und Richtern begrüsst, da sie endlich eine landesweite Vereinheitlichung der Praktiken ermöglichen, unabhängig vom Ort der Scheidung oder der Trennung und vom Richter oder der Richterin, welche(r) den Fall beurteilt. Während die Rechtssicherheit damit gestärkt wird, stellt sich die Frage, ob auch die Gleichstellung und die Frauen von der neuen Regelung profitieren.
Abkehr von der 45er-Regel
Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Abkehr von der «45er-Regel». Diese Regel sah vor, dass einem Ehepartner nicht zugemutet werden kann, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, wenn er während der Ehe nicht erwerbstätig war und im Zeitpunkt der Auflösung des gemeinsamen Haushalts oder im Zeitpunkt der Scheidung schon das 45. Altersjahr erreicht hatte. Die Altersgrenze wurde auf 50 Jahre angehoben. Natürlich sind die Verhältnisse in jedem Fall individuell zu beurteilen, und die Richter müssen auch prüfen, ob die Möglichkeit zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit tatsächlich besteht und ob besondere Gründe vorliegen, wie etwa die Betreuung von Kleinkindern, die gegen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sprechen. Jedes Mal wird die individuelle Situation unter Berücksichtigung des Alters, des Gesundheitszustands, der vor der Ehe ausgeübten Tätigkeiten, der Flexibilität der betroffenen Personen und der Lage am Arbeitsmarkt evaluiert. Dennoch wird nunmehr erwartet, dass die «Hausfrauen» nach einer Scheidung oder Trennung wieder einer Arbeit nachgehen, und dies selbst nach einer langjährigen Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit und bis sie das 50. Altersjahr erreicht haben. Das gleiche gilt auch für «Hausmänner», wenngleich diese Fälle statistisch kaum ins Gewicht fallen.
Früher oder später müssen Frauen und Männer, die ihre berufliche Karriere unterbrechen, um sich ihrer Familie zu widmen, damit rechnen, dass sie finanziell wieder auf eigenen Füssen stehen müssen. Die Zahl der Scheidungen in der Schweiz ist hoch (2). Das Ende der Ehe ist für die «Hausfrau»/den «Hausmann» nicht mehr mit der Gewissheit verbunden, dass der frühere Partner bis zur Pensionierung für den Unterhalt aufkommen wird. Dieses Merkmal eines vor rund hundert Jahren entstandenen Zivilgesetzbuchs steht ernsthaft auf der Kippe.
Damals war das gesellschaftliche Leben vom bürgerlichen Modell geprägt: Das Eherecht gründete auf einem patriarchalischen Denkmuster. Nur sehr wenige Frauen führten ein unabhängiges Leben, und diejenigen, die das taten, verdienten oft weniger als die Männer, der Zugang zu vielen Berufen blieb ihnen verwehrt, ihre Rechte waren eingeschränkt. Das Ideal bestand mithin in der Heirat: Der Ehemann übernahm die finanzielle Absicherung seiner Frau für den Rest ihres Lebens – während der Ehe, aber auch nach einer allfälligen Scheidung, sofern diese nicht auf ein «Verschulden» der Ehefrau zurückzuführen war. Im Gegenzug war die Ehefrau gesetzlich verpflichtet, den gemeinsamen Haushalt zu führen. Zum Glück haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen unter dem Einfluss der feministischen Forderungen und der gesellschaftlichen Entwicklung seither gewandelt. Bleibt noch die AHV, deren Mechanismus immer noch auf dem traditionellen Paarmodell basiert, bei dem der Mann den Löwenanteil des Haushaltseinkommens verdient.
Paradigmenwechsel in der Regierung und im Parlament
Der Entscheid des Bundesgerichts hat bereits zu Kollateraleffekten geführt, und dies in einem Masse, dass man von einem eigentlichen Paradigmenwechsel sprechen kann. So wurde das Postulat Sibel Arslan 20.4327 mit dem Titel «Massnahmenplan für den Wiedereinstieg von Frauen in die Arbeitswelt» vom Nationalrat am ersten Tag der Sommersession angenommen. Die Basler Nationalrätin schlägt darin eine Reihe von Massnahmen vor, um den Wiedereinstieg von Frauen in die Arbeitswelt zu erleichtern: Einstiegs- und Potenzialabklärungsgespräche, Erwerb von Grundkompetenzen (Allgemeinbildung, berufliche Aus- und Weiterbildung usw.), Begleitung durch Coachings bei der Stellensuche, Praktikumsplätze und Fachkurse in den Unternehmen.
Der Vorstoss markiert einen echten Wendepunkt – selbst wenn es sich bloss um ein Postulat handelt, welches vom Bundesrat einen Bericht verlangt. Das Postulat hält im Schlussteil fest, dass der Bundesrat den Bereich des Wiedereinstiegs im Rahmen seiner Fachkräftestrategie/Fachkräfteinitiative «stärker gewichten und aktiv unterstützen» soll. Im vergangenen Februar empfahl der Bundesrat das Postulat zur Annahme.
Ein fast 10-jähriger Denkprozess
Es ist nicht das erste Mal, dass sich das Parlament mit der Frage des beruflichen Wiedereinstiegs von Frauen befasst. Bisher hatte dieses Anliegen jedoch kein Gehör gefunden. Diesbezüglich sei an die Jahre 2013 und 2014 erinnert, eine Periode, in der zahlreiche Postulate, Motionen und Interpellationen eingereicht wurden. Die Vorstösse zielten auf verschiedene Gesetzeslücken und Probleme ab und schlugen entsprechende Lösungen vor: fehlende Statistiken, Validierung von Bildungsleistungen, Wiedereinstiegsfonds, Bildungsgutscheine, Verpflichtung zur Schaffung von Praktikumsplätzen für öffentliche Arbeitgeber, Bereitstellung von Mitteln für die berufliche Wiedereingliederung im Rahmen des Weiterbildungsgesetzes, finanzielle Unterstützung von Beratungsdiensten für Frauen, durch die Arbeitslosenversicherung finanzierte Bildungsmassnahmen… Parlamentarier von nahezu allen Seiten des politischen Spektrums haben sich des Themas angenommen. Aber keiner dieser Vorstösse brachte konkrete Ergebnisse.
Einer dieser Vorstösse, die parlamentarische Initiative des früheren Vizepräsidenten von Travail.Suisse Jacques-André Maire (3), wurde zwar eingehend diskutiert, konnte sich letztendlich aber nicht durchsetzen. Der Text verlangte eine Änderung des Bundesgesetzes über die Arbeitslosenversicherung und dessen Artikel 60: Wiedereinstiegswillige, die sich nach einer mehr als vier Jahre dauernden Erziehungszeit auf die Rückkehr ins Berufsleben vorbereiten, müssen während der Dauer der Bildungsmassnahmen nicht vermittlungsfähig sein. Die 2014 eingereichte Initiative fand in der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats Zustimmung, wurde im Jahr 2016 aber von der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates und vom Plenum der kleinen Kammer abgelehnt.
Dieser eigentliche Bewusstseinsbildungsprozess auf Ebene des Parlaments begann im Februar 2013 im Nachgang zur Präsentation der Ergebnisse einer Studie von Travail.Suisse mit dem Titel «Die Rückkehr ins Berufsleben erfolgreich meistern» (4). Diese Broschüre bildete gleichzeitig das Schlussdokument zum Projekt «Expérience ReProf», welches vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI finanziert wurde. Die Gesamtzahl der von der Frage des Wiedereinstiegs nach einer beruflichen Auszeit von 10 bis 15 Jahren betroffenen Frauen wurde damals auf 13'500 bis 15'000 pro Jahr geschätzt. Die Hindernisse auf dem Weg zur Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit waren vielfältig; Travail.Suisse schlug achtzehn Massnahmen vor, um diese Hürden zu beseitigen.
Die Gleichstellung ist eine Langzeitaufgabe
Die Sensibilisierungsarbeit zur Gleichstellungsthematik ist eine langfristige Aufgabe, welche Travail.Suisse tagtäglich beschäftigt. Mit der Abkehr von der 45er-Regel im Scheidungsfall rückt die Frage des beruflichen Wiedereinstiegs von Frauen erneut ins Zentrum der politischen Debatte. Zweifellos brauchte es diesen Anstoss, damit endlich echte Massnahmen ergriffen werden, um den betroffenen Frauen den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt zu erleichtern. Weil der Fachkräftemangel weiter anhält, weil sich die Stellensuche ab Alter 45 nach wie vor schwierig gestaltet, weil die Wiedereingliederungskurse die Nachfrage nicht zu decken vermögen und für die Mehrheit der Betroffenen zu teuer sind, ein Missstand, den Travail.Suisse schon im Jahr 2013 angeprangert hat.
Die Abkehr von der «45er-Regel» wird auf individueller Ebene schmerzliche Folgen haben. Tatsache ist nämlich, dass die Suche nach einem Arbeitsplatz ab diesem Alter oft aussichtslos ist, insbesondere für Personen mit tiefem Bildungsniveau. Dennoch: Wenn diese Abkehr dem Gesetzgeber auch die Möglichkeit gibt, echte Massnahmen zu beschliessen – darunter verbindliche Vorgaben für die Arbeitgebenden –, um den Frauen den beruflichen Wiedereinstieg zu erleichtern, ist sie als Schritt in die richtige Richtung zu werten. Schliesslich werden die Frauen damit an Autonomie und Unabhängigkeit gewinnen.
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Fussnoten
(1): Urteile 5A_907/2018, 5A_311/2019, 5A_891/2018, 5A_104/2018, 5A_800/2019
(2): Gemäss dem BFS standen im Jahr 2020 mehr als 16'091 Scheidungen insgesamt 34'940 Eheschliessungen gegenüber, was bedeutet, dass jede zweite Ehe geschieden wurde.
(3): Parlamentarische Initiative 14.452 Maire - AVIG. Bildungsmassnahmen im Falle eines Wiedereinstiegs ins Berufsleben nach Erziehungszeiten.
(4): Valérie Borioli Sandoz, Angela Zihler, «Die Rückkehr ins Berufsleben erfolgreich meistern. Handlungsfelder und mögliche Massnahmen im Bereich der Bildung und Arbeitsmarktintegration von Wiedereinsteigenden», Travail.Suisse, Februar 2013