Nach Ansicht von Bundesrätin Simonetta Sommaruga würde ein grosszügiger Vaterschaftsurlaub mit anschliessendem langem Elternurlaub dafür sorgen, dass mehr Frauen berufstätig bleiben und grössere Pensen übernehmen. Travail.Suisse, die unabhängige Dachorganisation von 170’000 Arbeitnehmenden, teilt die Ansicht, dass es für die Frauen selber und für die ganze Gesellschaft wichtig ist, die Präsenz der Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu stärken. Doch um dieses Ziel zu erreichen, braucht es eine beherzte Politik mit Sofortmassnahmen statt der im Parlament in familienpolitischen Fragen üblichen Politik der kleinen Schritte.
Die Frauen müssen mehr arbeiten, das heisst sowohl die Zahl der erwerbstätigen Frauen als auch der Beschäftigungsgrad der berufstätigen Frauen muss zunehmen. So lautete die Botschaft von Simonetta Sommaruga, als sie vor einigen Wochen für einen Vaterschaftsurlaub von mindestens vier Wochen plädierte, der Teil eines Elternurlaubs von mindestens sechs Monaten bei 80 Prozent Lohn ist und somit gleich entlöhnt würde wie der Mutterschaftsurlaub, den er ergänzen soll.
Legitime finanzielle Überlegungen
Was sind die Gründe für diesen Kurswechsel? Während die Frauen bisher praktisch allein für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verantwortlich waren, sollen sie nun helfen, den akuten Fachkräftemangel zu beheben. Weshalb wird nun das brachliegende Arbeitspotenzial der Frauen, die häufig teilzeitlich arbeiten und eine zu tiefe Erwerbsquote aufweisen (83,9 Prozent gegenüber 97,7 Prozent bei den Männern), plötzlich zum Thema? Und ist die Einführung eines Vaterschaftsurlaubs mit anschliessendem langem Elternurlaub die richtige und die einzig notwendige Massnahme?
Neben dem legitimen Gleichstellungsziel, die Familien- und Hausarbeit nach der Geburt eines Kindes zu teilen, liegen der Initiative der sozialdemokratischen Departementsvorsteherin zweifellos auch finanzielle Überlegungen zugrunde: Wenn die Frauen mehr arbeiten, steigen dadurch die Steuereinnahmen und die Sozialversicherungsbeiträge. Bei einer Scheidung (immerhin fast jede zweite Ehe wird geschieden) läuft eine Frau, die immer berufstätig war, weniger Gefahr, Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Sie finanziert auch ihre Pensionierung und wird seltener auf Ergänzungsleistungen angewiesen sein.
Aufgabe der Erwerbstätigkeit ist langfristig problematisch
Wenn mehr Frauen erwerbstätig sein sollen, gilt es zu vermeiden, dass sich diese bei einer Mutterschaft aus der Arbeitswelt zurückziehen. Eine Viertelmillion Frauen geben jedes Jahr ihre Berufstätigkeit aus familiären Gründen auf, sei es freiwillig oder gezwungenermassen. Später ist es für diese Frauen sehr schwierig, wieder eine Stelle zu finden. Sie haben zudem keinen Anspruch mehr auf die arbeitsmarktlichen Massnahmen, die im Arbeitslosenversicherungsgesetz vorgesehen sind: Mit der letzten Revision des AVIG wurden die Ansprüche bei einem Wiedereinstieg ins Berufsleben drastisch reduziert. Die Analyse des Bundesamts für Statistik vom vergangenen August zur Arbeitslosigkeit von Frauen zeigt, dass bei den Frauen ein Teil der Arbeitslosigkeit in den üblichen Statistiken nicht erscheint, weil die meisten Frauen eine Stelle suchen, ohne sich bei einem RAV anzumelden.
Es wäre klug, dieser «Verschwendung» ein Ende zu setzen und dafür zu sorgen, dass die staatlichen Investitionen in die Ausbildung der weiblichen Bevölkerung eine höhere Rendite abwerfen. Dazu müssen wir uns vor Augen halten, vor wie vielen Hürden Frauen stehen, die wieder in den Beruf einsteigen wollen oder müssen. Es fehlt sowohl an finanziellen Mitteln als auch an konkreter Unterstützung. Dies zeigt die laufende Forschungsarbeit «Expérience ReProf»1 von Travail.Suisse.
Kantone sollen Rechenschaft über Massnahmen
zur beruflichen Wiedereingliederung ablegen
Laut Berufsbildungsgesetz kann zwar der Bund Massnahmen für den Wiedereinstieg nach einem Erwerbsunterbruch finanzieren, es ist aber Sache der Kantone, wie sie diese Mittel einsetzen. Die Kantone organisieren sich daher nach eigenem Gutdünken und müssen dem Bund nicht nachweisen, wie sie den Geldsegen verwenden. Es ist Zeit, dass die Kantone Rechenschaft darüber ablegen, wie sie die spezifische Problematik des Wiedereinstiegs der Frauen angehen.
Travail.Suisse unterstützt im Übrigen die Einführung von Bildungsgutscheinen. Diese würden dazu beitragen, dass die Frauen für den Arbeitsmarkt gerüstet sind, und dass ein Kursangebot entsteht, das auf diese Bevölkerungsgruppe mit beschränkten finanziellen Mitteln abgestimmt ist.
Digitale Agenda «mamagenda»: vorbeugen statt heilen
Vorbeugen ist besser als heilen! Wenn das Erwerbspotenzial der weiblichen Bevölkerung besser genutzt werden soll, müssen wir sicherstellen, dass die Frauen ihre Berufstätigkeit nicht aufgeben. Dafür stehen effiziente Hilfsmittel zur Verfügung. Eines davon ist die kostenlose digitale Online-Agenda «mamagenda.ch» von Travail.Suisse. Die Agenda richtet sich an erwerbstätige Frauen, die Mutter werden, und an deren Vorgesetzte. Sie hilft diesen, die Zeit des Mutterschaftsurlaubs und die Rückkehr der jungen Mutter an den Arbeitsplatz für beide Seiten optimal zu organisieren.
Ist ein grosszügiger Vaterschaftsurlaub mit anschliessendem mehrmonatigem Elternurlaub also das Patentrezept, das die Frauen dazu bringt, mehr zu arbeiten? Ohne weitere Schritte werden diese beiden Massnahmen nicht alle Probleme lösen und die Frauen nicht zurück ins Büro oder in die Werkstatt zaubern. Dazu braucht es auch verlässliche Rahmenbedingungen für die Familien. Zur Erinnerung: Nirgendwo sonst wird so viel gearbeitet wie in der Schweiz, gemessen sowohl an den Wochenstunden als auch an den Ferien- und Feiertagen sowie der Arbeitswegzeit. Das ergab die 5. Europäische Erhebung über die Arbeitsbedingungen, die vom Staatssekretariat für Wirtschaft 2010 veröffentlicht wurde. Auch Lohndiskriminierungen gegenüber Frauen sind noch immer verbreitet: Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass es für 40 Prozent der Lohnunterschiede keinerlei objektive Gründe gibt, und je nach gewählten Kriterien ist der Anteil noch höher. Schliesslich fehlt es noch immer an Betreuungsstrukturen für Kinder, aber auch zunehmend an Einrichtungen zur Betreuung älterer Menschen.
Nein zur «Politik der kleinen Schritte» in der Familienpolitik!
Ein sechsmonatiger Elternurlaub mit einem Teil, der ausschliesslich vom Vater bezogen werden kann und als Vaterschaftsurlaub bezeichnet wird: So lautete bereits 2010 der mutige Vorschlag der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF). Heute mahnt hingegen die neue Präsidentin, die ehemalige Nationalrätin Thérèse Meyer, zu typisch schweizerischer Zurückhaltung. Sie befürwortet eine «Politik der kleinen Schritte» zu einem Zeitpunkt, in dem alle Signale auf rot stehen.
In unserem Land braucht es dringend ein durchdachtes Massnahmenpaket für Familien, das die Frauen gezielt von der Bürde entlastet, Beruf und Familie aus eigener Kraft vereinbaren zu müssen. Nur unter diesen Voraussetzungen – und zu diesem Preis – werden die Mütter auf dem Arbeitmarkt präsenter sein und die Väter die Möglichkeit erhalten, mehr als «Wochenendväter» zu sein.
1Siehe Medienservice vom 10. September 2012 «Weiterbildungsgutscheine für Wiedereinsteigerinnen», Medienservice vom 7. Mai 2012 «Finanzierung der Weiterbildung als Knackpunkt», und Medienservice vom 20. Februar 2012 «Rückkehr ins Berufsleben begleiten» von Angela Zihler.