«Tag der betreuenden Angehörigen» – Für eine Strategie und ein Impulsprogramm zur Unterstützung von betreuenden Angehörigen
Am 30. Oktober ist der Interkantonale Tag der betreuenden Angehörigen. Ihnen allen gebührt höchste Wertschätzung für ihren unverzichtbaren Einsatz. Doch damit ist es nicht getan: Es braucht dringend eine umfassende Strategie des Bundes für betreuende Angehörige sowie ein Impulsprogramm zur Ergänzung bestehender Betreuungsangebote.
Vor Kurzem wurden für erwerbstätige betreuende Angehörige zwei neue Arten von Urlaub eingeführt. Doch das Problem ist damit nicht gelöst, denn nicht alle betreuenden Angehörigen sind erwerbstätig. Zudem muss etwas gegen die Gewalt unternommen werden, der ältere Menschen ausgesetzt sind. Dafür müssen diejenigen Personen unterstützt werden, die sich in erster Linie um Ältere kümmern: betreuende Angehörige.
Nachdem das Gesetz zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung in zwei Etappen in Kraft getreten ist, könnte der Eindruck entstehen, dass die Frage der betreuenden Angehörigen nun umfassend auf Bundesebene geregelt ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Dies zeigen auch die 16 Empfehlungen, die aufgrund des Förderprogramms «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017-2020» erarbeitet wurden.
Eine Mehrheit der betreuenden Angehörigen ist berufstätig. Meistens übernehmen Personen im Alter von rund 50 Jahren Betreuungsaufgaben, häufig zur Unterstützung eines Eltern- oder Schwiegerelternteils. Deshalb war es plausibel, in einem ersten Schritt Massnahmen zu ergreifen, mit denen sich Erwerbsarbeit und Care-Arbeit bei Angehörigen besser vereinbaren lassen.
Das Ergebnis ist die Einführung eines Urlaubs für kurzzeitige Arbeitsabwesenheiten von höchstens drei Tagen pro Ereignis (und höchstens 10 Tagen pro Jahr, ausser wenn es sich um die eigenen Kinder handelt). Erwerbstätige können so am Arbeitsplatz fehlen und erhalten von ihren Arbeitgebenden trotzdem ihren Lohn, wenn sie sich um ein Familienmitglied kümmern. Dieser längere Kurzzeiturlaub ist am 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Im Juli wurde endlich auch der Langzeiturlaub von höchstens 14 Wochen für Eltern mit schwer kranken oder verunfallten Kindern Realität. Während dieses neuen Urlaubs werden 80% des Lohns entrichtet, und zwar über die Erwerbsersatzordnung (EO).
Die Vereinigungen betreuender Angehöriger, namentlich die Dachorganisation IGAB, die von Travail.Suisse gemeinsam mit dem Schweizerischen Roten Kreuz, Pro Infirmis, Pro Senectute und der Krebsliga gegründet wurde, schlagen seit der Vernehmlassung des neuen Gesetzes Alarm: Es fehlen wichtige Massnahmen, insbesondere die Anerkennung unentgeltlicher Arbeit durch die Sozialversicherungen, da diese Arbeit häufig auf Kosten der Altersvorsorge der betreuenden Angehörigen geht, sowie ein Langzeiturlaub für betreuende Angehörige, die sich um erwachsene Personen kümmern. Alle Vorstösse im Parlament sind aus finanziellen Gründen gescheitert, obwohl das Engagement von Angehörigen, die Erwachsene – ganz auf ihre eigenen Kosten – betreuen, Milliarden von Franken für Gesundheitsleistungen und Betreuungseinrichtungen spart.
Es braucht eine echte Strategie für alle «betreuenden Angehörigen»
Nicht alle betreuenden Angehörigen sind erwerbstätig. Nach der Pensionierung ändert sich der Kontext deutlich: Häufig kümmert sich der Ehepartner oder die Ehepartnerin um einen betreuungsbedürftigen älteren Menschen. Insgesamt fehlt es in der Schweiz an einer echten Strategie für betreuende Angehörige – unabhängig von Alter, Beschäftigung und persönlicher Situation und unabhängig von Beziehung (Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft), Alter und Gesundheitszustand der Menschen, für die sie im Alltag Hilfe leisten. Konkret braucht es in der Schweiz einen klar definierten Status für betreuende Angehörige, wie er beispielsweise in Belgien existiert, der Anspruch auf bestimmte Leistungen gibt (Entlastungsangebote, Sozialleistungen usw.). In diesem Sinne haben die Mitglieder der IGAB an ihrer letzten Generalversammlung im Juni eine Resolution verabschiedet: Sie fordern den Bundesrat auf, gemeinsam mit den Vereinigungen betreuender Angehöriger einen solchen Status für betreuende Angehörige zu definieren.
Für ein Impulsprogramm gegen Gewalt im Alter
Ein Umdenken zugunsten eines solchen umfassenden Ansatzes könnte nun die Problematik der Gewalt an älteren Menschen bewirken. Gemäss einem Bericht des Bundesrats vom 18. Dezember 2020 «sollen jährlich 300’000 bis 500’000 über 60-Jährige von irgendeiner Form der Misshandlung betroffen sein» (1). Der Bundesrat ist der Ansicht, dass das Ausmass der Gewalt und Vernachlässigung im Alter in den Statistiken zum grossen Teil nicht abgebildet wird. Weil sich vor allem Lebens- und Ehepartnerinnen und -partner sowie andere Verwandte um Angehörige ab 65 Jahren kümmern, müssen die betreuenden Angehörigen unterstützt werden, wenn wir dieses nicht tolerierbare Problem beseitigen wollen (2).
Aufgrund dieses Berichts reichte die Luzerner Nationalrätin Ida Glanzmann-Hunkeler im Juni eine Motion ein, die ein Impulsprogramm zur Prävention von Gewalt im Alter verlangt. Im Text wird ein Programm gefordert, das unter anderem auf den «Ausbau von qualitativ guten, einfach zugänglichen Angeboten zur Betreuung älterer Menschen und zur Entlastung der betreuenden Angehörigen abzielt». Zur Gewährleistung eines ausreichenden und qualitativ guten Betreuungsangebots nicht nur in Institutionen müssen Massnahmen zur Sensibilisierung und Ausbildung betreuender Angehöriger geschaffen werden.
Die Kantone sollten regelmässig die Informationen zu Angeboten für betreuende Angehörige aktualisieren. Dazu können sie sich auf die Daten stützen, die im Rahmen des Forschungsmandats G05 des Förderprogramms erhoben wurden. Für diese Studie wurden über 1’300 Einrichtungen und Organisationen kontaktiert, um in Erfahrung zu bringen, welche Angebote bestehen (3).
Im Vorfeld des Tags der betreuenden Angehörigen vom 30. Oktober , der mit der Teilnahme von Kantonen aus der ganzen Schweiz eine fast nationale Reichweite hat, unterstützen Travail.Suisse und die IGAB diese Motion vorbehaltlos. Aufgrund der Pandemie wurden die Arbeiten des Bundes und der Kantone verzögert, sie sollten aber im kommenden Frühling wieder aufgenommen werden. Dabei wäre es wiederum von Vorteil, die Vereinigungen betreuender Angehöriger sowie Personen, die diese im Alltag begleiten, in die Überlegungen einzubeziehen.
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Quellen:
(1): Bericht des Bundesrats vom 18. September 2020, «Gewalt im Alter verhindern», in Erfüllung des Postulats 15.3945 Glanzmann-Hunkeler vom 24. September 2015
(2): Siehe Faktenblatt zum Synthesebericht des Förderprogramms «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020» des BAG
(3): Econcept AG, ZHAW Zürich, «Tages- und Nachtstrukturen – Einflussfaktoren der Inanspruchnahme. Forschungsmandat G05 des Förderprogramms «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020», 22. Oktober 2019, BA