Betreuende Angehörige – ihr Status muss definiert werden
Die Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung IGAB – deren Gründungsmitglied Travail.Suisse ist – hat am 1. Juni 2021 eine Fachtagung zum Status der betreuenden Angehörigen durchgeführt. Diverse Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland haben mögliche Wege und Lösungen aufgezeigt. In Belgien ist etwa im September 2020 ein grosszügiges Gesetz zur Anerkennung von betreuenden Angehörigen in Kraft getreten. In der Schweiz ist man sich hingegen auf breiter Linie einig: Das neue Bundesgesetz zur Unterstützung von betreuenden Angehörigen, das dieses Jahr in zwei Etappen in Kraft gesetzt wurde, geht nicht weit genug. Es befasst sich nur mit der beruflichen und der wirtschaftlichen Seite der Thematik, und das reicht nicht.
Das neue Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung ist dieses Jahr in zwei Etappen in Kraft getreten und bringt für viele Familien eine echte Entlastung. Im Januar wurde der dreitägige Urlaub, der es Eltern erlaubt, sich um ihr krankes Kind zu kümmern, ausgedehnt: Neu wird der Kurzurlaub auch Familienmitgliedern in direkter auf- oder absteigender Linie (Eltern, hauptsächlich Kindern), Geschwistern, Ehegatten, eingetragenen Partnerinnen und Partnern oder Lebenspartnerinnen und Lebenspartnern gewährt, die seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen mit dem Arbeitnehmer bzw. der Arbeitnehmerin einen gemeinsamen Haushalt führen. Onkel, Tanten sowie Cousins und Cousinen sind in dieser Definition nicht enthalten. Der dreitägige Urlaub wurde nicht nur erweitert, sondern muss vom Arbeitgeber bezahlt werden. Diese Klarstellung zieht den Schlussstrich unter eine jahrelange rechtliche Unsicherheit, was Travail.Suisse und seine Mitglieder freut, die mit der wiederkehrenden mangelnden Bereitschaft gewisser Arbeitgeber, diese paar Tage zu bezahlen, konfrontiert waren.
Am 1. Juli 2021 ist ein neuer Betreuungsurlaub in Kraft getreten für Eltern, die ihre Arbeit unterbrechen müssen, weil ihr minderjähriges Kind wegen Krankheit oder Unfall gesundheitlich schwer beeinträchtigt ist. Dieser neue Urlaub von höchstens 14 Wochen wird über eine neue Betreuungsentschädigung über die Erwerbsersatzordnung EO finanziert. Das Taggeld beträgt 80 % des Erwerbseinkommens und die Eltern geniessen einen sechsmonatigen Kündigungsschutz. Zur grossen Erleichterung vieler Organisationen hat das Parlament diesen Rettungsring für betroffene Familien verabschiedet.
Diese neuen Bestimmungen gehen einher mit zwei weiteren Massnahmen: Die Betreuungsgutschriften der AHV werden erweitert und die Entrichtung von Hilflosenentschädigungen sowie von Intensivpflegezuschlägen bei einem Spitalaufenthalt von anspruchsberechtigten Minderjährigen wird weitergeführt. Bei den Betreuungsgutschriften handelt es sich um ein zusätzliches fiktives Einkommen, das dem persönlichen AHV-Konto der betreuenden Angehörigen gutgeschrieben wird für jedes Jahr, in dem sie Angehörige betreut haben: Seit dem 1. Januar 2021 haben die Lebenspartnerin oder der Lebenspartner, die oder der seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen mit der versicherten Person einen gemeinsamen Haushalt führt, Anspruch auf diese Gutschriften. Ausserdem wird der Hilflosigkeitsgrad der betreuten Person nicht mehr berücksichtigt, sondern nur, ob sie Pflege oder Betreuung benötigt. Dies ist der Fall, wenn sie eine Hilflosenentschädigung der AHV, der IV, der Unfallversicherung oder der Militärversicherung bezieht. Gleiches gilt für Minderjährige, die eine solche Entschädigung erhalten.
Beruf und Wirtschaft sind nicht die einzigen Aspekte
Das neue Gesetz betrachtet die Frage der betreuenden Angehörigen nur unter beruflichen und wirtschaftlichen Aspekten. Es geht nicht so weit wie die Regelungen in Deutschland oder in Belgien: Das deutsche Gesetz sieht bezahlte Urlaube sowie ein Anspruch auf Beratungsangebote und Entlastungsleistungen vor, während im Gesetz in Belgien ein Status verankert ist, der den Anspruch auf einen spezifischen bezahlten Urlaub über die Krankenversicherungen begründet. Die Fachtagung zum Status der betreuenden Angehörigen wurde von der Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung am 1. Juni 2021 als Onlineveranstaltung organisiert. Mehrere Expertinnen und Experten aus der Schweiz, aus Belgien und aus Deutschland referierten zu diesem Thema.
Eine der Referentinnen war Rechtsprofessorin Anne-Sylvie Dupont der Universität Neuenburg, Fachanwältin für Haftpflicht und Versicherungsrecht. Aus Sicht der Expertin könne beim neuen Gesetz nicht von einer echten rechtlichen Anerkennung der betreuenden Angehörigen gesprochen werden. Das Gesetz sei nur sektoriell, ändere nichts am beruflichen und versicherungstechnischen Status der betreuenden Angehörigen und erweitere die direkt für die betreuenden Angehörigen bestimmten Sozialleistungen nicht.
Das belgische Gesetz für die Anerkennung betreuender Angehöriger
Als Vertreterin des belgischen Verbands wallonie.aidants-proches ging Céline Feuillat auf die Vorbereitung und die Entstehung des Gesetzes über die Anerkennung der betreuenden Angehörigen ein. Der parlamentarische Prozess wurde durch die Regierungskrise vom Dezember 2018 verlangsamt, die zum Rücktritt von Premierminister Charles Michel geführt hatte. Nach den Parlamentswahlen vom Mai 2019 musste Belgien 16 Monate auf eine neue Regierung warten. Im September 2020 setzte die neue Regierung das neue Anerkennungsgesetz in Kraft.
In Belgien müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein, um als «betreuende Angehörige» anerkannt zu werden: permanenter Wohnsitz in Belgien, Eintragung im nationalen Register sowie Betreuung einer Person, die wegen ihres hohen Alters, ihres Gesundheitszustands oder ihrer Behinderung hilfsbedürftig oder abhängig ist. Das belgische Gesetz sieht vor, dass die Unterstützung nichtgewerblich und kostenlos gewährt werden muss, jedoch unter Beizug mindestens einer Fachperson, dass die Lebenspläne der betreuten Person berücksichtigt werden müssen und dass ein Vertrauensverhältnis oder eine emotionale oder geografische Bindung mit der betreuten Person bestehen muss.
Ein bezahlter Urlaub von höchstens zwei Monaten ist unter bestimmten Bedingungen vorgesehen: Die betreute Person muss einen gewissen Hilflosigkeitsgrad aufweisen, permanent und tatsächlich in Belgien wohnhaft sein und die Betreuungszeit muss mindestens 50 Stunden pro Monat und 600 Stunden pro Jahr betragen. Es können für die Gewährung der sozialen Rechte höchstens drei betreuende Angehörige anerkannt werden. Vollzeitarbeitende können ihren Arbeitsvertrag für jede betreute Person einen Monat lang vollständig, zu 50 % oder zu 20 % aussetzen. Teilzeitarbeitende können nur eine vollständige Aussetzung ihres Vertrags von zwei Monaten pro betreute Person geltend machen.
Momentan laufen Arbeiten, um den Urlaub auf bis zu sechs Monate auszudehnen oder das Rentenniveau der betreuenden Angehörigen, die in Rente gehen, aufzuwerten.
Die wegen mangelnder Klarheit schwankende Rolle der betreuenden Angehörigen
In der Schweiz gibt es bei der Anerkennung der betreuenden Angehörigen grosse Schwankungen. Das hat das Referat von Iren Bischofberger der Careum Hochschule Gesundheit gezeigt, und zwar am Beispiel der 6. IV-Revision und deren Auswirkungen auf die betreuenden Angehörigen: Am Anfang stand eine «Deinstitutionalisierungsphase», indem es den IV-Rentenbeziehenden ermöglicht wurde, dank dem Assistenzbeitrag in ihren eigenen vier Wänden zu wohnen. In der darauffolgenden Phase der «Refamiliarisierung» war die Rede von einer (bezahlten) Einbindung von Angehörigen. Allerdings wurde diese Phase durch die Ablehnung dieser Möglichkeit im Parlament beendet (Phase der «Defamilialisierung»). Momentan befinden wir uns in einer Phase der «Reinstitutionalisierung», da einige Kantone eine Anstellung von betreuenden Angehörigen durch Spitex-Dienste erlauben.
Künftig werden wir vielleicht eine «Refamilialisierung» erleben, da die parlamentarische Initiative Lohr aus dem Jahr 2012 «Entschädigung von Hilfeleistungen von Angehörigen im Rahmen des Assistenzbeitrages» (12.409) am 10. August 2021 von der ständerätlichen Sozialkommission angenommen wurde. Die nationalrätliche Schwesterkommission muss nun einen entsprechenden Gesetzesentwurf ausarbeiten. Die Verabschiedung eines Status für betreuende Angehörige würde sicherlich helfen, eine Richtschnur für die parlamentarischen Arbeiten festzulegen.
Ebenfalls am 1. Juni 2021, vor der Fachtagung, fand die Generalversammlung statt, an der die Mitglieder des unabhängigen Dachverbands IGAB eine Resolution zuhanden des Bundesrats verabschiedet haben. Konkret fordert die IGAB den Bundesrat auf, Arbeiten zu veranlassen, die auf Bundesebene zur Definition eines Status für betreuende Angehörige führen. Die IGAB-Mitglieder verlangen, dass die Überlegungen dazu mit den in diesem Bereich tätigen Verbänden geführt werden, die im Dachverband IGAB vertreten sind.
Resolution vom 1.6.2021 der IGAB
Brief der IGAB vom 3.6.2021 an den Bundesrat