Corona-Virus und pflegende Angehörige: Es braucht weitere dringende Entscheidungen
Lokale Solidaritätsbekundungen haben sich im Zuge der Coronakrise entfaltet. Sie könnten das Entstehen von lokalen Unterstützungsgemeinschaften beschleunigen. Allerdings können solche «Caring Communities» die Massnahmen, die auf struktureller Ebene zu treffen sind, nicht ersetzen. Der Bundesrat, der momentan alleine am Ruder steht, muss den Forderungen der pflegenden Angehörigen Rechnung tragen, die arbeiten müssen, weil sie von gewissen Krisenmassnahmen hart getroffen werden.
Seit dem 16. März gelten für alle das Social Distancing sowie Ausgangsbeschränkungen. Pflegende und gepflegte Angehörige fühlen sich noch viel mehr allein gelassen. Erstere können ihren Aufgaben häufig nicht mehr nachgehen, während Letzteren die üblichen Hilfsdienste nicht mehr zuteilwerden. Die Situation gestaltet sich für die Organisationen, die Hilfe zuhause – manchmal über Freiwillige – anbieten, zunehmend komplizierter. Sehr häufig handelt es sich bei diesen freiwilligen Helfern um über 65-Jährige, die sich genügend fit fühlen, um einen Mahlzeitendienst zu übernehmen, Menschen zu besuchen, mit ihnen Zeit zu verbringen und ihnen Gesellschaft zu leisten, Personen mit eingeschränkter Mobilität zum Arzt zu begleiten, usw. Diese freiwilligen Helfer gehören zur Gruppe der gefährdeten Personen und dürfen nicht mehr eingesetzt werden. Die betreuten Personen mussten rasch einen Plan B finden, und damit haben sich die Organisationen befasst.
Für einfache Aufgaben wie Einkaufen oder die Entsorgung von Haushaltsabfällen haben sich schweizweit lokale Solidaritätsgruppen entwickelt, die sich für gefährdete oder Risikopersonen engagieren. Das ist lobenswert. Diese Krise, die für viele aus menschlicher Sicht schwierig zu ertragen ist, hat eine Bewusstwerdung bewirkt, welche enorme Arbeit von pflegenden Angehörigen geleistet wird. Die Jungen etwa, die Mitglieder verschiedener Jugendverbände sind, haben zu einer «Annäherung» der Generationen beigetragen (natürlich unter Einhaltung der Distanzregelungen). Und es ist zu hoffen, dass dieses Engagement über die Pandemie hinaus andauern wird.
Vielleicht ist dies ein willkommener und unerwarteter Beschleuniger für die Gründung von neuen Unterstützungsgemeinschaften, sogenannten Caring Communities. Das Konzept gibt es ja bereits. Eine Caring Community ist eine «Gemeinschaft in einem Quartier, einer Gemeinde oder einem Dorf, in der Menschen füreinander sorgen, sich gegenseitig unterstützen und gemeinsam Verantwortung für soziale Aufgaben übernehmen. In einer Sorgekultur erhalten betreuende Angehörige die Möglichkeit, Teil eines sozialen und solidarischen Netzwerks zu sein, in dem sie Hilfe annehmen können und entlastet werden». Das Netzwerk Caring Communities ist eine gemeinsame schweizweite Initiative u. a. vom Migros Kulturprozent, von Gesundheitsförderung Schweiz, Pro Senectute und von Careum Hochschule Gesundheit (die letzten beiden Organisationen sind Mitglieder der Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung IGAB , wo Travail.Suisse Gründungsmitglied ist). Allerdings sind die Caring Communities nicht die einzige Antwort.
Rasches Inkrafttreten des Gesetzes über die Angehörigenpflege erforderlich
Auch wenn die Regierung nun in dieser Gesundheitskrise alleine am Ruder steht, hat das Parlament über seine Kommissionen die Befugnis, ihre Handlungen zu lenken, wie die Sozialpartner, die jeden Tag konsultiert werden. Das hat die Waadtländer Nationalrätin Léonore Porchet aus der Grünen Fraktion versucht, indem sie bei der Gesundheitskommission eine Motion eingereicht hat. Sie verlangt, dass bei einer Schliessung von Tagesstrukturen oder -einrichtungen der Anspruch auf EO-Erwerbsausfallentschädigungen im Zusammenhang mit Corona auf berufstätige Personen ausgedehnt wird, die diese Einrichtungen für ihre Angehörigen beanspruchen, unabhängig vom Alter. Die COVID-19-Verordnung 2 sieht diese Entschädigungen nur für Eltern mit Kindern unter 12 Jahre vor, wenn sie sie nicht betreuen lassen und daher nicht von zuhause aus arbeiten können. Diese grosse Lücke muss unverzüglich und rückwirkend geschlossen werden. Leider hat die Kommission die Motion verworfen. Der Bundesrat wird auf andere Art und Weise auf dieses heikle Thema angesprochen.
Häufig wird vergessen, dass die betreuenden Angehörigen auch Eltern sind, die Kinder mit Behinderungen oder Krankheiten haben, Partner/-innen von Personen mit degenerativen Erkrankungen sind, die nicht mehr ohne fremde Hilfe leben können, oder Geschwister einer jugendlichen Person mit eingeschränkter Autonomie. Man kann Angehörige ausserhalb der eigenen Wohnung betreuen, aber häufig findet diese Betreuung innerhalb der Familie statt. Für all diese betreuenden Angehörigen, die oft berufstätig sind, wurde Ende 2019 vom Parlament ein Gesetz zu ihrer Entlastung verabschiedet. Dieses Gesetz sieht einen Urlaub von drei Tagen für die Betreuung von Familienmitgliedern, die keine eigenen Kinder sind, vor, einen Langzeitbetreuungsurlaub für schwerkranke oder verunfallte Kinder und eine Ausdehnung des Anspruchs auf AHV-Betreuungsgutschriften auf weitere Personen.
Wegen der ausserordentlichen Lage, die unser Land momentan erlebt, muss sich der Bundesrat für eine unverzügliche Umsetzung des Gesetzes für Angehörigenpflege aussprechen, da die Referendumsfrist am 9. April abgelaufen ist. Während der Dauer der Pandemie muss er eine wichtige Forderung zur Invalidenversicherung wieder aufgreifen: Die Assistenzbeiträge der IV müssen den Angehörigen gewährt werden können (Ehepartnern, eingetragenen Partnern, in direkter Linie Verwandten). Nach der Krise ist dieser «Versuchsballon» mit den Personen zu überprüfen, die plötzlich übernehmen mussten, um die seit Langem von zahlreichen Betroffenen erwartete Massnahme dauerhaft zu verankern.