Es gibt so viele verschiedene betreuende Angehörige wie es individuelle Situationen gibt. Obwohl die Lebenswege der betreuenden Angehörigen je nach Alter, Behinderung, Krankheit oder Unfall weit auseinandergehen, gibt es doch gemeinsame Schwierigkeiten. Als Reaktion auf die ersten dringenden Bedürfnisse hat der Nationalrat die vom Bundesrat vorgeschlagenen vier Massnahmen verabschiedet. Die Kosten dafür belaufen sich auf schätzungsweise 168 bis 228 Millionen Franken pro Jahr.
Obwohl der Gesetzesentwurf nur vier Massnahmen umfasste, befürchteten Travail.Suisse und die Interessengemeinschaft für betreuende und pflegende Angehörige (IG-Betr. Angehörige), dass er in der Herbstsession in der Grossen Kammer noch weiter abgeschwächt werden könnte. Doch zum Glück ist das nicht geschehen, obwohl es mehrere Minderheitsvorschläge aus den Fraktionen der FDP-Liberalen und der SVP gab. Allerdings wollte der Nationalrat aber auch nicht auf weitere Minderheitsvorschläge eingehen, welche die Reichweite des Entwurfs ausgedehnt hätten.
Am 23. September hat sich der Nationalrat grossmehrheitlich (129 gegen 48 Stimmen bei 7 Enthaltungen) der Mehrheit seiner Kommission angeschlossen und folgende Massnahmen verabschiedet:
- Ausdehnung von Kurzabsenzen auf weitere Anspruchsberechtigte (die anderen Familienmitglieder, Partner, die seit mindestens fünf Jahren einen gemeinsamen Haushalt führen) und auf weitere betreute Personen als die kranken Kinder (Erwachsene). Dieser Anspruch ist auf höchstens drei Tage pro Fall begrenzt bzw. auf höchstens zehn Tage pro Jahr, wenn es um die Pflege erwachsener Angehöriger geht (gilt nicht für Kinder);
- Einführung eines langfristigen Betreuungsurlaubs von bis zu 14 Wochen für Eltern, deren Kinder schwer krank oder verunfallt sind, der innerhalb von 18 Monaten zu beziehen ist. Dieser neue Urlaub wird in die EO integriert, in die Arbeitgeber und Arbeitnehmende einzahlen;
- Modernisierung der Betreuungsgutschriften, die neu auch für Konkubinatspaare gelten und für die Personen, die Angehörige mit einer Entschädigung für leichte Hilflosigkeit betreuen;
- die Sistierung der Hilflosenentschädigung und des Intensivpflegezuschlags bei einem Spitalaufenthalt von betroffenen Kindern tritt neu erst nach einem Kalendermonat in Kraft.
Damit wurde ein erster sehr wichtiger Schritt gemacht, um die Rechtssicherheit für Arbeitnehmende mit elterlichen Pflichten zu gewährleisten. Das Recht, bei Krankheit eines Kindes bis zu drei Tage Urlaub zu beziehen, war bereits im Arbeitsgesetz festgeschrieben (Art. 36 Abs. 3). Leider ist der Lohnfortzahlungsanspruch in einem anderen Gesetzestext verankert – im Obligationenrecht –, sodass einige unredliche und herzlose Arbeitgeber diese rechtliche Lücke genutzt haben, um die Lohnfortzahlung bei solchen Abwesenheiten auszusetzen. Obwohl das Zivilgesetzbuch (Art. 276) den Eltern eine Unterhaltspflicht für ihr Kind auferlegt.
Die Vorlage geht nun in den Ständerat, wo sie am 28. Oktober von der Gesundheitskommission behandelt wird.
Geringe Kosten
Seit über zehn Jahren schreibt der Bund Jahr für Jahr Gewinne. Es ist daher erstaunlich, dass gewisse Parlamentarier den Teufel an die Wand malen, wenn es um die geschätzten Kosten dieser Massnahmen geht. Ja, sie haben ihren Preis. Und zwar schätzungsweise 168 bis 228 Millionen pro Jahr, zulasten der verschiedenen Sozialversicherungen (EO, AHV, IV). Das ist nicht nichts. Doch im Vergleich zu den rund 81 Milliarden Franken, die den Gegenwert der jährlich kostenlos geleisteten Care-Arbeit darstellen – eine Zahl, die im Nationalrat gerne und häufig zitiert wird –, fällt dieser Betrag kaum ins Gewicht.
Viele Faktoren rechtfertigen diese Ausgaben, und es werden noch mehr dazukommen. An erster Stelle steht die demografische Entwicklung: Die Alterung der Bevölkerung ist ein bekanntes Phänomen, ebenso die Tatsache, dass die Geburtenrate keine genügende Erneuerung der Generationen zulässt. So wird gemäss Prognosen des BFS der Anteil der Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und älter von 18 % oder 1,5 Millionen Menschen (2014) auf 23 % oder 2,2 Millionen Menschen (2030), auf 27 % oder 2,8 Millionen Menschen (2050) und schliesslich auf rund 30 % (3 Millionen Menschen) im Jahr 2065 steigen. Entsprechend wird der Bedarf aus rein mathematischer Sicht zunehmen.
Vorhersehbare Zunahme des Bedarfs
Die Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen auf Hilfe angewiesen sind, bekommen diese immer häufiger von ihren Angehörigen. Heute wird daher der Anteil der bezahlten Care-Aufgaben für Kinder und Erwachsene auf nur 19 % der gesamten Care-Arbeit geschätzt. Wegen der Sparmassnahmen in den öffentlichen und privaten Hilfseinrichtungen lastet die Care-Arbeit nun vermehrt auf den Schultern der Angehörigen. Gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium ist die Dauer der Aufenthalte in Akutspitälern von 7,3 auf 5,3 und in den Rehabilitationseinrichtungen von 25,8 auf 22,9 Tage gesunken. Häufig werden die betreffenden Personen bis zur vollständigen Genesung zuhause von ihren Angehörigen gepflegt. Ebenfalls im Sinne von Sparmassnahmen konzentrieren sich Haushilfe und Hauspflege vermehrt auf die Pflege, sodass die betreuenden Angehörigen immer mehr Aufgaben im Haushalt übernehmen.
Von den betreuenden Angehörigen sind zwei Drittel berufstätig. Diese Gruppe gefährdet ihre Gesundheit und ihre finanzielle Zukunft. Ganz klar ist, dass bei einer Arbeitszeitverkürzung oder der Aufgabe der Berufstätigkeit, um die Eltern oder andere Familienmitglieder zu unterstützen, die künftige Rente unter einer Verringerung oder einer Lücke der Sozialbeiträge leidet. Davon sind mehrheitlich Frauen betroffen. Die Altersarmut ist bereits Realität.
Gleichzeitig leidet die Wirtschaft unter einem Fachkräftemangel, der sich noch zuspitzen wird. Die Arbeit im Parlament muss daher vorangetrieben werden. Nach dieser ersten Reaktion muss auch über Massnahmen nachgedacht werden, um die Vereinbarkeit der Berufstätigkeit mit der langfristigen Betreuung von Angehörigen zu ermöglichen (Auszeit, Infrastrukturen, Zulagen usw.). Hoffen wir, dass das neue im Oktober gewählte Parlament vermehrt ein offenes Ohr für die Bedürfnisse der betreuenden Angehörigen hat.