Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats (SGK-NR) wird im August erstmals den Gesetzesentwurf des Bundesrates über die betreuenden Angehörigen behandeln. Auf dem Tisch liegen vier Massnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Betreuungsaufgaben für Angehörige. Obwohl diese Massnahmen nicht einmal ausreichen, um die wichtigsten Bedürfnisse zu decken, werden sie von einigen politischen Kreisen bereits bekämpft.
Der Entwurf des Bundesrates behandelt nur Notfälle, er bietet keinen langfristigen Lösungsansatz für die Care-Arbeit. Dennoch sind die vier vorgeschlagenen Massnahmen ein wichtiger erster Schritt. Die kurzfristigen Abwesenheiten, bei denen die Regierung die Lohnfortzahlung auch für Personen ohne Unterhaltspflicht gesetzlich verankern will, der neue Langzeiturlaub von 14 Wochen für Eltern mit schwerkranken oder verunfallten Kindern oder eine Lockerung der Kriterien für die Gewährung von Betreuungsgutschriften: Diese drei Massnahmen müssen unterstützt werden. Travail.Suisse unterstützt auch die vierte Massnahme, die die Beibehaltung der Intensivpflegezuschläge (IPZ) und der Hilflosenentschädigung beim Spitalaufenthalt eines Kindes fordert.
Travail.Suisse hielt bereits in der Stellungnahme zur Vernehmlassung1 fest, dass die von der Regierung vorgeschlagenen Massnahmen minimalistisch und lückenhaft sind. Die vier Massnahmen, die Ende August von der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-NR) diskutiert werden, sind deshalb als erster Schritt möglichst unverändert zu übernehmen. Für Travail.Suisse ist es allerdings von höchster Wichtigkeit, dass eine echte, kohärente und sektor-übergreifende Politik zugunsten der betreuenden Angehörigen verfolgt wird, die einen gezielten Aktionsplan und spezifische Massnahmen umfasst. Travail.Suisse ist sich bewusst, dass eine solche Politik ihren Preis hat, aber in Anbetracht des enormen Beitrags, der momentan von den betreuenden Angehörigen unentgeltlich geleistet wird2, dürfen die Behörden nicht einfach untätig zuschauen. Denn es ist keineswegs garantiert, dass dies künftig weiterhin so sein wird.
Von den betreuenden Angehörigen sind zwei Drittel berufstätig. Diese Gruppe gefährdet ihre Gesundheit und ihre finanzielle Zukunft. Es ist bekannt, dass rund 40% von ihnen psychische Probleme haben und dass eine von vier betroffenen Frauen angibt, dass ihr Engagement sich negativ auf ihre Karriere auswirkt. Ganz klar ist, dass bei einer Arbeitszeitverkürzung oder der Aufgabe der Berufstätigkeit, um die Eltern oder andere Familienmitglieder zu betreuen, die künftige Rente unter einer Verringerung oder einer Lücke der Sozialbeiträge leidet. Davon sind mehrheitlich Frauen betroffen.
Die Alterung der Bevölkerung lässt den Bedarf steigen
Gemäss der heutigen Bevölkerungsstruktur und der künftigen demografischen Entwicklung erreichen in den kommenden Jahren die geburtenstarken Jahrgänge (Babyboomer) das Rentenalter. Die Menschen werden immer älter, während die Geburtenrate stagniert und es auf der anderen Seite der Alterspyramide viel weniger Kinder und Jugendliche gibt. Als unmittelbare Folge dieser Alterung mit unterschiedlichen Ursachen haben Wirtschaft und Unternehmen Mühe, Fachkräfte zu finden: Hier zeigt sich der Fachkräftemangel, über die sich die Wirtschaft regelmässig beklagt. Die Gesellschaft muss weiterhin auf die Hilfe, die Unterstützung und die Betreuung zählen können, die im Familienkreis und darüber hinaus geleistet werden. Denn diese Arbeit kann unmöglich über kostenpflichtige Dienstleistungen abgedeckt werden. Bund und Kantone müssen zwingend die Tragweite der Herausforderung erfassen. Und dann muss die Politik bereit sein, sinnvoll in gute Massnahmen zu investieren, die den betreuenden Angehörigen langfristig helfen.
Langfristig braucht es weitere Massnahmen
Es wird noch weitere Massnahmen brauchen, um Berufstätigkeit und Care-Arbeit zu vereinbaren. Um die Gesundheit der stark engagierten betreuenden Angehörigen zu erhalten, muss eine bezahlte Auszeit geschaffen werden, wie dies die parlamentarische Initiative3 Meier-Schatz vorsieht, der vom Parlament Folge gegeben wurde: Betreuende Angehörige müssen mindestens einmal pro Jahr eine Auszeit erhalten. Aus finanzieller Sicht sind mehrere Möglichkeiten zu prüfen. Auch wenn sie nur symbolischen Charakter haben, müssen Entschädigungen für betreuende Angehörige landesweit eingeführt werden (nur wenige Gemeinden und Kantone wie Freiburg oder Basel-Stadt kennen solche Entschädigungen). Die Assistenzbeiträge der IV müssen anders als heute den Angehörigen gewährt werden können. Die Hilflosenentschädigungen der AHV müssen verdoppelt werden können, wenn Pflege und Betreuung zuhause erfolgen, wie dies die IV erlaubt. Arbeitslose, die Angehörige pflegen, sollten eine Verlängerung der AVIG-Rahmenfrist erhalten, gemäss dem Modell, das bei Aus- und Weiterbildungen angewandt wird. Schliesslich soll der Staat den fehlenden Arbeitgeberanteil übernehmen, wenn jemand für die Betreuung von Angehörigen die Arbeitszeit reduziert oder die Berufstätigkeit gar aufgibt.
In Abstimmung mit der neu gegründeten Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung (IGAB ) wird Travail.Suisse demnächst die Mitglieder der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates informieren.
fn. 1Siehe die Stellungnahme von Travail.Suisse (nur auf Französisch)
2 Gemäss dem BFS werden 1,7 Milliarden Stunden «Sorge- und Pflegearbeit» bei Kindern und Erwachsenen geleistet, informelle Freiwilligenarbeit für Erwachsene und weitere Leistungen für Verwandte und Bekannte. Insgesamt schätzt man, dass 35 % der ständigen Wohnbevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren in der Schweiz regelmässig Kinder oder Erwachsene betreuen. Dies entspricht 1,9 Millionen Menschen. Die grosse Mehrheit dieser Personen ist erwerbstätig.
3https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20110412