Die #metoo-Bewegung wird mit Kundgebungen, einem landesweiten Streik, aber auch mit Tagungen, Forderungskatalogen und humoristischen Kampagnen in den sozialen Netzwerken weitergeführt. Das «Momentum» der Gleichstellung ist bereits da. Auch Travail.Suisse beteiligt sich mit seinem Positionspapier zur Gleichstellung daran. Kündigt sich für den Herbst 2018 eine Aufwärmrunde für die nationalen Wahlen an?
Das Ausmass der internationalen Mobilisierung gegen sexuelle Belästigung, nachdem Opfer aus der Kino- und Kunstszene ihre Stimme erhoben hatten, war und ist beispiellos. Seit Herbst 2017 wird das mit dem Hashtag #metoo in den sozialen Netzwerken in Gang gesetzte Bewusstwerden in Medien, Unternehmen, internationalen Organisationen und Gesprächen zwischen Einzelnen weitergeführt. Es vergeht keine Woche, ohne dass ein Manager oder ein bekannter Schauspieler öffentlich der Belästigung beschuldigt wird, manchmal nachdem das Opfer jahrelang aus Angst geschwiegen hatte.
Diese Kampagne ist jedoch nicht neu, sondern wurde bereits vor 10 Jahren von Tarana Burke ins Leben gerufen, einer amerikanischen Aktivistin und Direktorin der Organisation «Girls for gender equity» mit Sitz in Brooklyn. Auf der Startseite der Website1 der #metoo-Bewegung erscheint eine Zahl: fast 18 Millionen Frauen haben seit 1998 eine sexuelle Aggression angezeigt.
Sexuelle Belästigung: jedes Jahr eine traurige Tatsache für jede dritte Person in der Schweiz
Die traurige Wahrheit ist, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen und Männer in unterschiedlichem Grad in allen Ländern der Welt vorkommt. Auch in der Schweiz. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) und das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO haben 2007 eine Erhebung durchgeführt2. Ihre Schlussfolgerung ist bezeichnend: «(…) 6,5 % der in einem Angestelltenverhältnis beschäftigten Personen in der Schweiz mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz konfrontiert, Frauen (10,3 %) deutlich stärker als Männer (3,5 %). Bezogen auf das gesamte Erwerbsleben sind insgesamt 18,1 % mindestens einmal sexuell belästigt worden, 28,3 % der Frauen und 10 % der Männer.»
Die sexuelle Belästigung deckt eine breite Palette von strafbaren Tatbeständen ab, zu der auch potenziell belästigendes Verhalten gehört (verbale Kommentare, unangebrachte Witze, Gesten, Andeutungen, aufgedrängte obszöne Bilder usw.). Dieses Verhalten ist weit verbreitet: «Insgesamt hat knapp jede dritte Person in den vergangen 12 Monaten und gut jede zweite Person bezogen auf ihr gesamtes Erwerbsleben mindestens ein potenziell belästigendes Verhalten erlebt, Frauen bezogen auf das gesamte Erwerbsleben häufiger als Männer (54,8 % vs. 48,6 %).»
Aufgrund des Ausmasses des Phänomens wurden mehrere Prospekte und Leitfäden für Arbeitgebende und Arbeitnehmende entwickelt, um diesen inakzeptablen Situationen zu begegnen. Diese sind sowohl auf der Website des EBG3 als auch auf jener des SECO4 verfügbar.
Nachdem das Treiben eines mächtigen Hollywood-Produzenten – Harvey Weinstein – publik gemacht wurde, übernahm die amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano den Titel der Kampagne von 2007 und stellt ihm ein Hashtag (#) voran. In Frankreich entfacht ein anderes Hashtag das Feuer in den sozialen Netzwerken: #balancetonporc, lanciert von der französischen Journalistin Sandra Muller, inspiriert von einem Artikel der Zeitung Le Parisien über die Affäre Weinstein. Seitdem versiegt der Fluss der Anschuldigungen nicht mehr, führt aber auch zu inakzeptablen Entwicklungen wie der Nennung (und Verurteilung ohne Anhörung) von Personen ausserhalb der Rechtsstaatlichkeit.
Tragen die Ständeräte Ohrstöpsel?
Bei der Debatte der Parlamentarierinnen und Parlamentarier über die Revision des Gleichstellungsgesetzes ging es ab. Von Spitzfindigkeiten über Scheinargumente und falsche Behauptungen bis zur Leugnung von offiziellen statistischen Informationen drückten sich mehrere Ständeräte (ausschliesslich Herren der Schöpfung) unerquicklich über das Thema aus. Tatsächlich soll diese Revision aber einzig eine gravierende Gesetzeslücke schliessen, denn obwohl die Lohndiskriminierung rechtswidrig ist, ist keine Anwendung des Gesetzes vorgesehen; keine Selbstkontrollen, keine externen Kontrollen und erst recht keine Sanktionen, auch keine progressiven. Die Frage stellt sich deshalb: trägt die eidgenössische Politik Ohrstöpsel, dass sie sich gegenüber des aktuellen «Momentums» der Gleichstellung so taub stellen kann? Nach dem Ständerat liegt es nun am Nationalrat und seiner Kommission, sich mit der sehr bescheidenen Vorlage des Bundesrats zu befassen. Wir hoffen, dass die grosse Kammer die Angelegenheit ernster nimmt und den ursprünglichen Entwurf wieder aufnimmt.
Nationale Kundgebung #ENOUGH18 für Lohngleichheit
In Folge dieser parlamentarischen Debatten gewann die Mobilisierung für Lohngleichheit an Fahrt. Die Rückweisung der Vorlage für die Revision des Gleichstellungsgesetzes löste eine Schockwelle aus. Über vierzig Frauen-, Männer- und religiöse Organisationen sowie Gewerkschaften bereiten für den 22. September 2018 eine grosse nationale Kundgebung in Bern vor, um – während der Herbstsession des Parlaments – auf die Unzufriedenheit der Frauen, die schon zu lange unter der Lohndiskriminierung leiden, aufmerksam zu machen. Jeden Monat werden den Frauen im Schnitt 600 Franken vorenthalten. Für die Gesamtheit der Arbeiterinnen betrachtet führt dieser Schnitt zum unglaublichen Betrag von über 7 Milliarden Franken, den die Frauen jedes Jahr ohne sachlichen Grund verlieren. Ein hoher Zoll der Diskriminierung.
Travail.Suisse beteiligt sich wie seine Mitglieder Syna, SCIV und OCST an dieser Kundgebung. Es versteht sich von selbst, dass die Forderung der Lohngleichheit Teil des allgemeinen Positionspapiers zur Gleichstellung ist, das am Vortag des 1. Mais an einer Medienkonferenz vorgestellt wurde. Am 30. April 2018 veröffentlichte Travail.Suisse 28 Forderungen zu verschiedenen Themen im Rahmen eines Positionspapiers zur Gleichstellung von Frau und Mann heute und morgen5.
Das Rentenalter der Frauen ist kein Klacks
Auf dem Menü der Kampagne «#65nopeanuts – Egalité complète, pas de cacahuètes»6 stehen ebenfalls über dreissig Ziele. Mit einem Augenzwinkern befasst sich das aus Ökonominnen und Juristinnen bestehende Kollektiv ernsthaft mit der Dynamik der Gleichstellung in Bezug auf sechs Aktionsfelder und bietet vierunddreissig Lösungen an. Alle diese Vorschläge sollen idealerweise umgesetzt werden, bevor das Rentenalter der Frauen heraufgesetzt wird.
Auch nachdem das Volk das Reformpaket Vorsorge 2020 von Alain Berset abgelehnt hat, wird in den laufenden Debatten und Arbeiten für die finanzielle Sicherstellung der AHV in der Zukunft weiter von der Erhöhung des Rentenalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre gesprochen. Obwohl diese Erhöhung des Rentenalters der Frauen zu einem grossen Teil für das Scheitern der Volksabstimmung vom 24. September 2017 verantwortlich ist. Travail.Suisse ist nicht gegen ein egalitäres Rentenalter, jedoch zu bestimmten Bedingungen. Die dank dieser Massnahme zusätzlich eingebrachten hunderte Millionen müssen an anderen Fronten kompensiert werden, um die Gleichstellung der Frauen und Männer in der Realität zu fördern (bessere Bedingungen für die berufliche Vorsorge der Teilzeitangestellten, Flexibilität bei der Frühpensionierung für benachteiligte Bevölkerungsgruppen, Rahmenbedingungen für die Vereinbarung von Berufs- und Familienleben usw.).
Das Kollektiv #65nopeanuts sieht das nicht anders. Sollen die Frauen mit 65 pensioniert werden, soll dies kein Klacks sein. Dieses Kollektiv ruft zu einer breiten Koalition für eine vollständige Gleichstellung auf und es können sich ihr alle anschliessen, indem sie sich in die Unterstützungsliste der Aktion eintragen7.
Aufruf zu einem erneuten Frauenstreik 2019
Eine nationale Mobilisierung ruft für den 14. Juni 2019 zu einem nationalen Frauenstreik auf. Es werden gegenwärtig kantonale Gruppierungen gebildet, um den grossen Streik vom 14. Juni 1991 zu wiederholen, an dem sich eine halbe Million Frauen beteiligte. Dieser Entschluss wurde an der Westschweizer Feministinnentagung vom 2. Juni 2018 gefasst. Dieser Streik soll genau wie jener von 1991 mit den lila Tüchern, dem Bummelstreik in den Familien und den Demonstrationszügen nicht nur symbolisch sein. Der anstehende Streik wird sowohl für das berufliche als auch das private Umfeld organisiert.
Richtet sich der Aufruf an alle Frauen, werden zweifellos auch die Männer folgen. Sei es nur, um auch ihren Teil der Gleichstellung einzufordern, insbesondere die Einführung eines bezahlten Vaterschaftsurlaubs von 20 Tagen, wie dies die Initiative «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub – zum Nutzen der ganzen Familie» verlangt. Denn wie der FDP-Nationalrat Philippe Nantermod kürzlich in einer Kolumne in der Zeitung Le Temps schrieb, ist die «Gleichstellung weder Frauensache» noch «eine Marotte der Linken».
Unser Land erlebt gerade ein wahres «Momentum» der Gleichstellung, das bis zu den nächsten nationalen Wahlen 2019 seine Wirkung zeigen wird. Travail.Suisse beteiligt sich aktiv daran.
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fn. 1 https://metoomvmt.org/
2EBG und SECO, «Risiko und Verbreitung sexueller Belästigung am Arbeitsplatz», Bern 2008.
3 https://www.ebg.admin.ch/ebg/de/home/dokumentation/publikationen/publik…
4 https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Arbeit/Personenfreizugigkeit_Arb…
5 http://www.travailsuisse.ch/aktuell/positionen?lang=de&which_abo=
6 www.65nopeanuts.ch
7 https://www.65nopeanuts.ch/rejoignez-nous/