Nach den zahlreichen öffentlichen Anschuldigungen im Zusammenhang mit Übergriffen und Gewalt gegen Frauen waren die Jahre 2017 und 2018 von einer stärkeren Welle von Reaktionen zugunsten der Gleichstellung geprägt. Auch die Internationale Arbeitskonferenz (IAK) hat die Gleichstellung mit dem Bericht des Generaldirektors Guy Ryder thematisiert und einen normensetzenden Prozess zum Thema Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt eingeleitet.
Travail.Suisse hat dieses Jahr im Namen der Schweizer Delegation der Arbeitnehmenden eine Rede an der IAK gehalten und auf die Situation in der Schweiz hingewiesen. Die Frage der Zukunft der Arbeit wurde ebenfalls thematisiert und wird ein Schwerpunktthema im Jahr 2019 bilden, in dem die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) ihr 100-jähriges Bestehen feiert.
Wenngleich die weltweite Debatte über die Fälle von sexueller Belästigung von Frauen, welche ein grosses Medienecho auslöste, in den vergangenen zwei Jahren die Verletzbarkeit der Frauen in den Fokus gerückt hat, betrifft die Frage der Gleichstellung auch die Männer. Im Rahmen der IAK 2018, die am 8. Juni zu Ende ging, präsentierte der Generaldirektor der IAO, Guy Ryder, seinen neuen Bericht mit dem Titel «Initiative für erwerbstätige Frauen: Ein Vorstoss für Gleichstellung». In diesem Bericht werden fünf Handlungsfelder vorgestellt, um eine angepasste Gleichstellungspolitik zu fördern und die Aktivitäten der IAO entsprechend auszurichten:
- Der rechte Weg zu einer neuen Pflegewirtschaft;
- Frauen stärker befähigen, selbst über die Verwendung ihrer Zeit zu bestimmen;
- Die Erwerbstätigkeit von Frauen fair bewerten;
- Frauen zu mehr Mitsprache und Repräsentation verhelfen;
- Gewalt und Belästigung ein Ende setzen.
Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, konnte seine Anliegen an der 107. Tagung der IAK im Namen der Schweizer Delegation der Arbeitnehmenden einbringen und den Bericht des Generaldirektors gutheissen. Das von Travail.Suisse erarbeitete Positionspapier «Gleichstellung von Mann und Frau heute und morgen» mit 28 Empfehlungen konnte der IAO und allen Delegierten an der IAK zur Kenntnis gebracht werden. Bei dieser Gelegenheit wurde daran erinnert, dass in der Schweiz noch zahlreiche Fortschritte zu erzielen sind und dass es diesbezüglich weniger an Mitteln als am politischen Willen fehlt.
Die Übereinkommen der IAO sind für die Schweiz wichtig
Die IAO setzt sich seit langem für die Gleichstellung der Geschlechter in der Arbeitswelt ein; ein erstes Beispiel war die Förderung des Grundsatzes «gleicher Lohn für gleiche Arbeit». Unter den Grundsätzen, die die IAO bei ihrer Gründung im Jahr 1919 definiert hat, wird dieses Anliegen übrigens als prioritär und dringlich eingestuft. Im Klartext bedeutet dies, dass Männer und Frauen für gleichwertige Arbeit die gleiche Entlöhnung erhalten sollten. Das Übereinkommen Nr. 100 über die Gleichheit des Entgelts geht auf das Jahr 1951 zurück und wurde 1972 von der Schweiz ratifiziert. In der Folge verabschiedete die IAO im Jahr 1958 auch das Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, welches die Schweiz ebenfalls ratifiziert hat. Mit der Ratifizierung dieses Übereinkommens hat sich die Schweiz verpflichtet, die Lohn- und Chancengleichheit in Beschäftigung und Beruf zu fördern, und dies sowohl in ihrem Rechtssystem als auch in der Praxis. Trotz der Ratifizierung dieser beiden Übereinkommen, die zu den wichtigsten der IAO zählen, sind in der Schweiz nach wie vor unerklärbare Lohnunterschiede festzustellen, die auf eine Genderdiskriminierung schliessen lassen. Die derzeit im Parlament diskutierte Gesetzesvorlage zur Gleichstellung, welche vorsieht, dass nur 0,8% der in der Schweiz ansässigen Unternehmen einer Überprüfung der Löhne unterzogen werden und dass diese bei Verstössen keine Sanktionen befürchten müssen, ist ein eklatantes Beispiel einer Gesetzeslücke. Und diese Gesetzeslücke führt aufgrund des fehlenden politischen Willens dazu, dass die von der Schweiz ratifizierten Übereinkommen der IAO nicht vollständig umgesetzt werden können.
Im Übrigen hat die Schweiz zwar die Übereinkommen Nr. 100 und 111 ratifiziert, nicht aber das Übereinkommen Nr. 156 über die Arbeitnehmer mit Familienpflichten. Dieses Übereinkommen zielt ebenfalls auf die Gleichstellung von Mann und Frau und bezweckt die Förderung einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Travail.Suisse geht diesbezüglich mit gutem Beispiel voran und hat mit ihrer Initiative für einen Vaterschaftsurlaub von 20 Tagen eine Gesetzesvorlage eingereicht, welche eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht, wie dies im Bericht des Generaldirektors der IAO gefordert wird.
Die normensetzende Arbeit der IAO muss prioritär bleiben
Travail.Suisse ist generell der Auffassung, dass die normensetzende Arbeit auch weiterhin im Zentrum der Tätigkeit der IAO stehen muss. In diesem Sinne hat sich die IAO verpflichtet, einen normensetzenden Prozess zum Thema Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt einzuleiten. Die IAO hat schon heute mehrere Normen, die auf Gewalt und Belästigung Bezug nehmen, aber keine dieser Normen enthält eine Definition oder konkrete Anleitungen bezüglich der Art und Weise, wie diese Übergriffe zu vermeiden sind. Die IAK 2018 hat sich daher zum Ziel gesetzt, inakzeptable Verhaltensweisen, die Möglichkeit, spezifische verletzbare Gruppen einzubinden, sowie die Behandlung der verschiedenen Fälle von Gewalt und Belästigung zu definieren. Eine zweite Etappe ist für 2019 geplant, um die Einführung eines Instruments zu vereinbaren; ebenso ist die Verabschiedung eines neuen Übereinkommens der IAO vorgesehen. Die Schweizer Delegation hat diesen normensetzenden Prozess geschlossen begrüsst. Ein zentraler Aspekt bleibt für Travail.Suisse die Tatsache, dass die Verabschiedung von rechtlichen Instrumenten und Sanktionen unabdingbare Voraussetzungen sind, um eine echte Gleichstellung und bessere Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmenden zu erreichen. Die Einführung von Regulierungsmechanismen und die Vereinfachung der Verhandlungen im Rahmen des sozialen Dialogs sind ebenfalls wichtige Hebel zur Förderung besserer Arbeitsbedingungen. Ohne eine verbindliche Rechtsnorm, welche adäquate Massnahmen vorsieht, lassen sich anständige Arbeitsbedingungen und soziale Gerechtigkeit für alle nicht konkretisieren. Aus diesen Gründen muss die Arbeit der IAO vor allem normensetzend bleiben.
Die Schweiz wird 2019 eine wichtige Rolle spielen
Mit Blick auf das hundertjährige Bestehen der IAO im kommenden Jahr wird der Schweiz die Ehre zuteil, die Präsidentschaft der nächsten IAK zu übernehmen. Unter den Initiativen, die im Rahmen des Jubiläums vorgesehen sind und die das Mandat der IAO als Garantin der sozialen Gerechtigkeit unterstützen sollen, hat sich die Schweiz verpflichtet, die Initiative über die Zukunft der Arbeit zu fördern. In diesem Kontext ist klar, dass die Förderung der Gleichstellung eine eminent wichtige Voraussetzung für die Gewährleistung guter Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmenden ist. Wie auch im Zusammenhang mit den anderen von der IAK 2018 behandelten Themen und insbesondere mit der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung in Erinnerung gerufen wurde, sind die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ziele eng miteinander verknüpft. Es ist daher schwer vorstellbar, ohne eine globale Sichtweise über die Zukunft der Arbeit zu diskutieren, und in der Schweiz sind diesbezüglich in vielen Bereichen noch erhebliche Fortschritte notwendig.