In der Schweiz ist die Meinung weitverbreitet, dass Mann und Frau gleichgestellt sind, nicht nur aus rechtlicher Sicht, sondern auch tatsächlich. Und genau diese Ansicht bildet die Grundlage für die Kritiken in Bezug auf die Gleichstellungsaktivitäten sowie die Angriffe gegen die Finanzierung von Projekten zugunsten der Gleichstellung. Doch ist die Gleichstellung wirklich in dem Masse umgesetzt? Die von der britischen Zeitschrift «The Economist» durchgeführte Umfrage zeigt leider ein anderes Bild. Die Schweiz hinkt beim Zugang der Frauen zum Arbeitsmarkt weit hinterher.
Seit 21 Jahren bietet das Gleichstellungsgesetz (GlG) dem Bund die Möglichkeit, Projekte zur Förderung der Gleichstellung im Erwerbsleben finanziell zu unterstützen (Artikel 14). Dank solcher Hilfen konnten www.infomutterschaft.ch und www.mamagenda.ch ins Leben gerufen werden. Auch die künftige Website für berufstätige betreuende Angehörige, www.info-workcare.ch, die diesen Herbst aufgeschaltet werden soll, hat davon profitiert. Das GlG ermöglicht es dem Bund ausserdem, privaten Institutionen Finanzhilfen zu gewähren, die Frauen im Erwerbsleben Beratung und Information bieten oder die die Wiedereingliederung von Frauen und Männern fördern, die ihre berufliche Tätigkeit zugunsten familiärer Aufgaben unterbrochen haben (Artikel 15).
Anfang April hat das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) einen Paradigmenwechsel punkto Finanzhilfen beschlossen.
Finanzhilfen nach dem GlG: ein merkwürdiges Geburtstagsgeschenk
Ab 2019 wird das Departement von Alain Berset die Finanzhilfen, die seit 1996 elf bestehenden Beratungsstellen gewährt wurden, streichen, weil deren Dienstleistungen mittlerweile von den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren oder von den kantonalen Berufsberatungsstellen angeboten würden.
Weiter wird das EDI ab 2017 die Unterstützung für Projekte und Programme zur Förderung der Gleichstellung im Erwerbsleben neu ausrichten. Der Bund wird Dienstleistungen und Projekte gemäss zwei Stossrichtungen unterstützen: Einerseits werden die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder die Verwirklichung der Lohngleichheit in Unternehmen gefördert, andererseits fliessen die Gelder in Projekte, die die Arbeit von Frauen in Berufen mit Fachkräftemangel fördern, zum Beispiel in Informatik, Naturwissenschaft oder Technik. Prioritär unterstützt werden Projekte, die die Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt verändern, wie flexible Arbeitszeitmodelle oder faire Lohnsysteme.
Dieser doppelte Entscheid stellt einen Paradigmenwechsel dar: Nur die Projekte, die sich an Unternehmen richten, können auf eine Finanzhilfe hoffen, sofern sie den festgelegten Stossrichtungen entsprechen. Dienstleistungen und Produkte, die direkt für die betroffenen Personen bestimmt sind, werden hingegen nicht mehr unterstützt. Travail.Suisse stellt fest, dass es die Unternehmen bisher nicht eilig hatten, die Gleichstellung intern konkret voranzutreiben. Nur sehr wenige von ihnen haben für ein internes Gleichstellungsprojekt oder -programm finanzielle Unterstützung beantragt. Es sei daran erinnert, dass auch nur sehr wenige Unternehmen sich am Lohngleichheitsdialog beteiligt haben, der – in der Sozialpartnerschaft – darauf abzielte, die Lohnungleichheit durch eine automatische Kontrolle der Lohngleichheit zu beseitigen 1 . Das EDI setzt nun jedoch voll und ganz auf die Unternehmen. Das GlG erhält zu seinem 20. Geburtstag im Juli 2016 ein merkwürdiges Geburtstagsgeschenk.
Unverzichtbare und einzigartige Dienstleistungen
Das EDI hat diesen Entscheid Anfang April gefällt. Dafür bedurfte es keiner Konsultation. Der Entscheid basiert auf juristischen Analysen in Bezug auf die Kompetenzenaufteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden. Schockierend ist, dass die Realität ganz anders aussieht, wie Travail.Suisse in seiner Studie über den Wiedereinstieg ins Berufsleben betont hat.
2013 2 hat Travail.Suisse gezeigt, dass die von den Beratungsstellen angebotenen Dienstleistungen einzigartig und unverzichtbar sind. Auch wenn diese Stellen trotz Bundesbeiträgen angesichts der ständigen Nachfrage nur wenig Mittel haben. Einige Stellen schaffen es gar, kostenlos zu arbeiten. Vor allem Frauen benötigen solche Dienstleistungen, insbesondere diejenigen, die über kein sehr hohes Ausbildungsniveau verfügen und die finanziell nicht sehr gut gestellt sind. Wichtig ist aber auch, dass die Beratungsstellen – im Gegensatz zur Aussage der juristischen Analysen – die staatlichen Angebote nicht konkurrenzieren. Die Frauen wenden sich nicht an die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV), weil sie wissen, dass sie dort keine aufmerksame und kompetente Unterstützung in Bezug auf ihre besondere Problematik erhalten. Das hat eine Studie des BFS gezeigt 3 . Diese Frauen haben auch nicht die Mittel, um teure Beratungen zur beruflichen Neuorientierung zu zahlen.
Die Kantone müssen auf finanzieller Ebene nun also aktiv werden, wie dies die Bundesverfassung (Art. 8 Abs. 3 2. Satz) und aus völkerrechtlicher Sicht das UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, das die Schweiz ratifiziert hat, vorschreiben. Das Bundesgericht hat in einem Urteil vom 21. November 2011 daran erinnert, dass die Kantone verpflichtet seien, geeignete Massnahmen zu treffen, um die faktische Gleichstellung zu fördern. In einer Zeit, wo Budgeteinschränkungen an der Tagesordnung sind, wird diese Übertragung von Verantwortung vom Bund auf die Kantone die Aufgabe der Beratungsstellen nicht vereinfachen. Denn diese werden die jeweiligen kantonalen Behörden davon überzeugen müssen, dass eine Aufrechterhaltung ihres Angebots unabdingbar ist.
Die Lohndiskriminierung hat sich verschärft
Alle zwei Jahre erinnert die Analyse der Lohndiskriminierung, die auf der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung des BFS basiert, daran, dass die berufliche Gleichstellung von Mann und Frau tatsächlich nicht existiert. Die Lohndiskriminierung ist im Privatsektor von 37,63 Prozent aller im Jahr 2010 beobachteten Lohnungleichheiten auf 41 Prozent im Jahr 2012 gestiegen. Ab dem Eintritt auf den Arbeitsmarkt verdienen junge Frauen im Schnitt 7 Prozent weniger als ihre Kollegen, unter ansonsten gleichen Bedingungen 4 . Somit haben sie im Monat 280 Franken weniger im Portemonnaie, ein Betrag, der weiter zunimmt. Letztlich werden den berufstätigen Frauen in der Schweiz über 7 Milliarden Franken pro Jahr nicht ausbezahlt – was absolut ungerechtfertigt ist.
Zugang der Frauen zum Arbeitsmarkt: die Schweiz weit abgeschlagen
Neulich hat die Zeitschrift «The Economist» die Ergebnisse ihres «Glass Ceiling Index» 5 veröffentlicht, der sich mit dem Phänomen der sogenannten gläsernen Decke auseinandersetzt. Dieser Index wurde anlässlich des Internationalen Frauentages der Vereinten Nationen am 8. März erstellt. Er misst den Zugang der Frauen zum Arbeitsmarkt anhand von neun Kriterien (Lücke in der höheren Bildung, Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt, Lohndifferenz, Anteil der Frauen auf Managerstufe, Frauen in Führungsorganen von Unternehmen, Kosten der Kinderbetreuung, bezahlter Mutterschaftsurlaub, Anteil der Frauen mit einem höheren Wirtschaftsdiplom, Anteil der auf nationaler Ebene gewählten Frauen).
2016 wurde ein zehntes Kriterium hinzugefügt: das Vorhandensein eines bezahlten Vaterschaftsurlaubs. Die Schweiz rangiert weiterhin auf dem viertletzten Platz vor der Türkei, Japan und Nordkorea! Ihre Wertung ist in einem Jahr von 41,7 auf 40,6 von insgesamt 100 Punkten gesunken. Die besten Plätze belegen die nordischen Länder: Island, Norwegen, Schweden und Finnland. Der Durchschnitt der OECD-Länder liegt bei 56 Punkten.
Die angekündigte Lancierung einer Volksinitiative für die Einführung eines bezahlten Vaterschaftsurlaubs von 20 Tagen (was im Hinblick auf die Praktiken bei unseren Nachbarn eher bescheiden ist) durch einen Zusammenschluss von Familien-, Frauen-, Männer- und Arbeitnehmendenorganisationen ist eine erste Antwort auf das vielschichtige Problem der Ungleichheit, auch wenn es zur Lösung dieses Problems weitaus mehr braucht.
Es muss weiter investiert werden
Der Entscheid des EDI, die finanzielle Unterstützung der Beratungsstellen zu streichen und die Finanzhilfen neu für Projekte zur Gleichstellung im Erwerbsleben einzusetzen, ist zweifellos auf politischen Druck zurückzuführen, in einem Umfeld, wo die Gleichstellung zu einem leidigen Thema geworden ist, das die Gemüter gar nicht mehr erregt. Die Zusammensetzung des Parlaments nach den Wahlen im Herbst 2015 hat ganz sicher etwas damit zu tun. Ein Beleg dafür ist wohl die Tatsache, dass im letzten Winter versucht wurde, das Budget der vom EBG gewährten Unterstützungsleistungen auf die Hälfte zusammenzustreichen. Die Gleichstellung ist zwar im Gesetz verankert, doch viele verstehen nicht, dass sie immer noch nicht Realität ist und dass daher immer noch in Projekte und Dienstleistungen für die betroffenen Personen investiert werden muss. Ausserdem sind auch die Sensibilisierung und die Information von Unternehmen unermüdlich weiterzuführen.
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p(footnote). 1 «Beendigung des Projekts ‹Lohngleichheitsdialog›: Es braucht automatische Kontrollen zur Lohngleichheit» Medienmitteilung von Travail.Suisse vom 9. Dezember 2013
2 Travail.Suisse – Die Rückkehr ins Berufsleben erfolgreich meistern. Handlungsfelder und mögliche Massnahmen im Bereich der Bildung und Arbeitsmarktintegration von Wiedereinsteigenden. Bern, 2013.
3BFS Aktuell – Frauen und Erwerbslosigkeit: Anhaltende Unterschiede zwischen Frauen und Männern bei der Erwerbslosenquote. Neuenburg, August 2012.
4 Projekt Belodis des NFP60 über die Gleichstellung der Geschlechter.
5http://www.economist.com/news/business/21598669-bestand-worstplaces-be-working-woman-glass-ceiling-index