Nach AHV 21: Gleichstellung jetzt, aber richtig!
Ein Monat nach der knapp angenommenen AHV 21-Reform wird öfter ins Feld geführt, dass die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre zur Gleichstellung gehöre. Wenn die tatsächliche Gleichstellung von Frau und Mann erreicht werden soll, dann muss die Politik sofort weitere Massnahmen beschliessen. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, setzt sich seit jeher für die Gleichstellung ein und fordert eine Gleichstellungsoffensive.
Nach der knappen Ablehnung der Altersvorsorge 2020 im September 2017 durch die Stimmberechtigten wurde AHV 21 am 25. September 2022 mit einer Differenz von lediglich rund 33'000 Stimmen angenommen. Gemäss ersten Befragungen nach der Abstimmung hat eine Mehrheit der Männer den Ausschlag für das Resultat gegeben, die Frauen wurden überstimmt. Nun ist klar: Ab 2024 steigt das Frauenrentenalter innerhalb von vier Jahren auf 65 Jahre und die Mehrwertsteuer steigt um 0,4 Prozent. Für Travail.Suisse und seine Verbände überwogen die Argumente gegen die Vorlage klar, entsprechend war der Einsatz für ein Nein.
AHV 21 ist ein Beispiel für negative Gleichstellung. Damit werden Massnahmen bezeichnet, die im Namen der Gleichstellung getroffen werden, aber eine Verschlechterung für die Frauen darstellen. Während der Kampagne wurde von Frauen und Männern oft argumentiert, dass die Gleichstellung in allen Bereichen des Lebens durchgesetzt werden müsse und dazu gehöre auch die Angleichung des Frauenrentenalters an jenes der Männer. Falls diese Haltung tatsächlich den Ausschlag für das Ja gegeben hat, dann muss die Politik die in der Bundesverfassung geforderte Gleichstellung nun endlich vorantreiben.
Travail.Suisse fordert dafür eine Gleichstellungsoffensive. Es braucht rasche Reformen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, um die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern voranzubringen. Mit den 2021 getroffenen Entscheiden des Bundesgerichts wurde die «Vorsorgeehe» praktisch abgeschafft – auch dies ein Beispiel negativer Gleichstellung, das die Notwendigkeit unterstreicht, dass Frauen und Männer während ihres gesamten Lebens ein sicheres und ausreichendes Einkommen erzielen können müssen. Travail.Suisse benennt konkret acht Bereiche:
1. Löhne
Zur Erreichung der wirtschaftlichen Gleichstellung brauchen Frauen gute Löhne. Dafür muss einerseits die Lohndiskriminierung konsequent bekämpft und andererseits müssen Berufe, welche mehrheitlich von Frauen ausgeübt werden, aufgewertet werden.
a. Konsequente Bekämpfung der Lohndiskriminierung
Das Gleichstellungsgesetz sieht Lohnanalysen bei Unternehmen ab 100 Angestellten vor. Die Durchführung dieser Analysen wird dabei weder kontrolliert, noch sind bei einem Verstoss Sanktionen vorgesehen. Auch bei einer bestätigten Lohndiskriminierung haben Unternehmen nichts zu befürchten (1). Travail.Suisse fordert eine Reform des Gleichstellungsgesetzes. Diese umfasst: Lohnanalysen für alle Unternehmen mit mehr als 50 Angestellten, Sanktionen bei einer Nicht-Einhaltung des Gesetzes und obligatorische Massnahmen bei vorliegender Lohndiskriminierung. Zudem müssen Toleranzschwellen, wie sie heute bei der Analyse bestehen, komplett aufgehoben werden. Das neue Gesetz soll im Gegensatz zum gegenwärtigen ausserdem keiner Sunset-Klausel unterstehen. Des Weiteren soll beim Bund eine Ombudsstelle eingeführt werden, welche unternehmensinterne Diskriminierungen von Frauen und Männern untersuchen, und entsprechende Empfehlungen aussprechen kann (Motion Porchet 22.3095).
b. Aufwertung von Berufen, welche mehrheitlich von Frauen ausgeübt werden
Die Löhne in Branchen, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten, sind zu tief. 16% aller Frauen beziehen einen Tieflohn. Bei den Männern beträgt dieser Anteil nur gerade die Hälfte. Problematisch ist die Situation insbesondere im Detailhandel, dem Gastgewerbe, der Pflege, der Reinigung, sowie weiteren Dienstleistungsbranchen (z.B. Coiffeure, Hauswirtschaft). Die Löhne in Tieflohnbranchen müssen konsequent erhöht werden. Dadurch verbessert sich die finanzielle Situation der Arbeitnehmenden aus diesen Branchen, mehrheitlich Frauen. Im Detailhandel muss ein allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsvertrag eingeführt werden.
2. Renten
Die Rentenlücke der Frauen ist beträchtlich und besteht vor allem in der beruflichen Vorsorge. Die Frauenrenten liegen insgesamt um 35% tiefer als diejenigen der Männer. In der beruflichen Vorsorge liegt die Rente der Frauen um 63% tiefer als diejenige der Männer, wie der neuste Bericht des Bundesrats darlegt. Damit liegt die Rentendifferenz zwischen Frauen und Männern («Gender Pension Gap») auch im europäischen Vergleich auf einem hohen Wert. Die BVG-Reform muss deshalb eine bessere Absicherung von Teilzeitarbeitenden – vor allem Frauen – zu tragbaren Kosten ermöglichen. Dazu muss der Koordinationsabzug reduziert werden, ohne dass die Kosten für Arbeitnehmende mit tiefen und mittleren Einkommen zu stark steigen. Die Frauenrenten müssen zudem rasch verbessert werden, so dass Frauenjahrgänge mit besonders grossen Lücken von den Verbesserungen profitieren können. Der Sozialpartnerkompromiss zeigt einen gangbaren Weg auf. Zudem muss die Care-Arbeit aufgewertet und besser versichert werden. Dazu sollen die Anspruchsvoraussetzungen für Betreuungsgutschriften in der AHV niederschwelliger gestaltet und der Personenkreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet werden (vgl. Postulat Graf 22.3370). Betreuende Angehörige sollen zudem in der beruflichen Vorsorge weiterhin im gleichen Ausmass versichert sein, wenn sie ihre Arbeitstätigkeit zur Betreuung reduzieren. Dabei soll der Arbeitgeberanteil von der öffentlichen Hand übernommen werden.
3. Beruflicher Wiedereinstieg und Weiterbildung
Der berufliche Wiedereinstieg von Frauen muss erleichtert und gefördert werden. Travail.Suisse hat bereits 2013 entsprechende Handlungsfelder und Forderungen lanciert. Im Rahmen des laufenden Projekts «Wiedereinstieg von Frauen in den Arbeitsmarkt» unter der Leitung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) sollen griffige Massnahmen entwickelt werden, welche allen Frauen den Wiedereinstieg ins Berufsleben ermöglichen. Gerade die finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand für Wiedereinsteigende ist ungenügend, wie eine neuere Studie im Auftrag der EDK belegt. In Bezug auf die finanzielle Unterstützung der Weiterbildung durch die Arbeitgebenden weist der «Barometer Gute Arbeit» von Travail.Suisse seit mehreren Jahren auf eine Diskriminierung von Teilzeitarbeitenden – in der grossen Mehrheit Frauen – hin. Massnahmen zur Förderung der Weiterbildung müssen neben der Finanzierung auch in den Bereichen Zugang, Information, Beratung und Begleitung und Zeit umgesetzt werden und in einer eigentlichen Weiterbildungsoffensive auch die Gleichstellung der Geschlechter in den Fokus genommen werden.
4. Elternurlaube
Die unterschiedlichen Urlaube nach der Geburt eines Kindes zwischen Müttern und Vätern führen dazu, dass viele Arbeitgebende die Anstellung einer Frau zwischen 20 und 45 als betriebliches Risiko erachten. Diese Ungleichbehandlung hat weitgehende Konsequenzen auf die Anstellungsmöglichkeiten und die Lohnentwicklung von Frauen. Einzig über eine Anpassung und Erweiterung der Elternurlaube kann diese Ungleichbehandlung zum Nachteil der Frauen reduziert oder aufgehoben werden. Die Schweiz braucht deshalb eine Elternzeit.
5. Externe Kinderbetreuung
Eine ausreichende und kostengünstige externe Kinderbetreuung ist zentral, damit Eltern einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachgehen oder sich weiterbilden können. Entsprechende Angebote sind in vielen Regionen der Schweiz nicht ausreichend vorhanden und/oder zu teuer. Für eine Verbesserung dieser Situation, muss der Bund in einem ersten Schritt dauerhaft eine finanzielle Beteiligung an den Kosten übernehmen und dadurch ein umfassendes und kostengünstiges Angebot an externer Kinderbetreuung sicherstellen. Die entsprechende parlamentarische Initiative (21.403) der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats muss dafür vom Parlament unterstützt und durch die Verwaltung rasch umgesetzt werden. (2)
6. Armutsbekämpfung
Die Schweiz kennt keine aktive Politik der Armutsbekämpfung. Die Folgen davon tragen zu einem wesentlichen Teil die Frauen. 45% der alleinerziehenden Mütter sind arm. Die Folgen davon sind nicht nur ein Mangel an finanziellen Mitteln, sondern auch beschränkte Perspektiven für Eltern und Kinder. Über eine aktive Armutsbekämpfung unter anderem durch die Einführung von bedarfsabhängigen Familienzulagen kann die Armut bei Familien, insbesondere bei Einelternfamilien, beendet werden.
7. Wochenarbeitszeit
Das schweizerische Arbeitsrecht sieht eine Wochenarbeitszeit von 45 bzw. 50 Stunden vor. Damit liegt die Schweiz verglichen mit anderen europäischen Ländern weit über den Arbeitszeiten, die eine gleichgestellte Vereinbarkeit von Arbeit und Familie für erwerbstätige Eltern oder erwerbstätige betreuende Angehörigen ermöglichen würden. Die Reduktion der Wochenarbeitszeit bei stabilen Einkommen ist eine Voraussetzung dafür, dass beide Elternteile erwerbstätig sein können, ohne die Familie zu vernachlässigen oder mit Einkommensarmut konfrontiert zu werden.
8. Steuern
Das Steuersystem der Schweiz basiert immer noch auf der Grundvorstellung, dass ein Ernährer mit einem Einkommen die Familie versorgt. Das zusätzliche Einkommen – in den meisten Fällen der Ehefrau – führt wegen der Steuerprogression zu einer höheren Steuerbelastung, häufig zusammen mit höheren Kosten für die familienexterne Kinderbetreuung, wodurch sich die Arbeit nicht mehr lohnt. Meist sind es die Frauen, die deswegen ihre Arbeitstätigkeit aufgeben. Die Ungleichheit der Eltern wird dadurch begünstigt. Durch die Besteuerung der einzelnen Einkommen individuell kann die Gleichstellung gefördert werden. Travail.Suisse unterstützt deshalb die im August eingereichte Individualbesteuerungs-Initiative. Travail.Suisse fordert, dass Frauen als vollwertige Steuerpflichtige betrachtet werden, um ihre finanzielle Eigenständigkeit zu achten und zu fördern. Ziel ist die Umsetzung der Individualbesteuerung. Sollten trotz zunehmender Erwerbstätigkeit der Frauen Steuereinbussen entstehen, sind diese mit Kompensationsmassnahmen auszugleichen.
Quellen:
- Mit dem Projekt RESPECT8-3.CH verfolgt Travail.Suisse das Ziel, Unternehmen zur Einhaltung des Gesetzes zu bewegen und die Nicht-Einhaltung über öffentlichen Druck zu ahnden.
- Vernehmlassung von Travail.Suisse zur parl. Initiative 21.403