Nulltoleranz bei Lohndiskriminierung: Die 5%-Toleranzschwelle muss weg
Bis Ende Juni 2023 müssen Unternehmen mit 100 oder mehr Angestellten ihre Löhne auf eine mögliche Diskriminierung zwischen Frauen und Männern analysieren lassen. Erste Auswertungen zeigen, dass in vielen Unternehmen eine strukturelle Lohndiskriminierung zwischen Frauen und Männern besteht. Die Konsequenzen daraus sind in vielen Fällen allerdings unklar. Grund dafür ist unter anderem eine nicht zu rechtfertigende Toleranzschwelle von 5 Prozent.
Das Gleichstellungsgesetz sieht vor, dass Unternehmen mit 100 oder mehr Angestellten ihre Löhne auf eine Diskriminierung zwischen Frauen und Männern analysieren müssen. Diese Analyse muss anschliessend revidiert und spätestens bis zum 30. Juni 2023 den Angestellten und Aktionären kommuniziert werden. Das Parlament hat allerdings darauf verzichtet, Sanktionen für Unternehmen vorzusehen, welche diesen Prozess nicht rechtskonform durchführen. Auch sind keine Massnahmen vorgesehen, wenn eine strukturelle Lohndiskriminierung nachgewiesen wird. Doch damit nicht genug: Die Verwaltung kennt nicht einmal die Ergebnisse der Lohnanalysen und bleibt damit über das Ausmass der strukturellen Lohndiskriminierung im Dunkeln. Das war ein bewusster Entscheid des Parlaments. Damit ist die Verwaltung, um nicht komplett im Dunkeln zu tappen, auf Resultate von privaten Revisionsunternehmen angewiesen. Diese analysieren, revidieren und zertifizieren Unternehmen, welche sich in dieser Frage vorbildlich positionieren wollen. Travail.Suisse hat Unternehmen, welche die Lohnanalysen durchgeführt haben, ebenfalls aufgefordert, sich auf der Weissen Liste der Plattform RESPECT8.3.CH zu registrieren. Auch hier handelt es sich in der Regel um vorbildliche und sozialpartnerschaftlich eingebundene Unternehmen. Die Resultate aber zeigen, dass strukturelle Lohndiskriminierung selbst bei diesen Unternehmen die Regel und nicht die Ausnahme bildet. Der ungewichtete Mittelwert der unerklärten Lohnunterschiede liegt zwischen 3 und 4 Prozent. Nur, was heisst das nun bezüglich der Lohndiskriminierung und des weiteren Vorgehens?
Diskriminierungstoleranz?
Das Lohnanalyseinstrument des Bundes Logib sieht eine Toleranzschwelle von 5% vor. Wer bei seinen Analysen eine unerklärte Lohndifferenz von unter 5% aufweist, weist gemäss diesem Instrument also keine Lohndiskriminierung auf. Diese Toleranzschwelle findet sich allerdings in keinem Gesetz und keiner Verordnung. Eine Untersuchung für das Gleichstellungsbüro des Kantons Waadt kommt zum Schluss, dass bei Anwendung dieser Toleranzschwelle 80% der Unternehmen keine Geschlechtseffekte aufweisen. Wird hingegen keine Toleranzschwelle berücksichtigt, so weisen über 50% der Unternehmen eine unerklärte Lohndifferenz auf. (1) Auch hier zeigt sich also, dass strukturelle Lohndiskriminierung eher die Regel als die Ausnahme ist. Die einzige Sanktion, welche einem Unternehmen mit ausgewiesener Lohndiskriminierung droht, besteht darin, dass die Lohnanalyse wiederholt werden muss. Unklar ist, ob diese Wiederholung für alle Unternehmen gilt, welche eine unerklärte Lohndifferenz aufweisen, oder nur für solche, welche über der Toleranzschwelle liegen. Sofern der Bund Unternehmen mit einer unerklärten Lohndifferenz von weniger als 5 Prozent von weiteren Analysen ausnimmt, legitimiert er in der Praxis eine rechtswidrige strukturelle Lohndiskriminierung. Tatsächlich bestehen aus heutiger Sicht weder für die Toleranzschwelle an und für sich, noch für ihre spezifische Höhe methodische oder juristische Rechtfertigungen. (2) Methodisch gerechtfertigt wäre höchstens ein statistischer Signifikanztest.
Strukturelle Lohndiskriminierung und individuelle Lohndiskriminierung
Ein weiterer häufiger Irrtum besteht darin, dass Unternehmen mit einer unerklärten Lohndifferenz von 0 keine Lohndiskriminierung aufweisen. Tatsächlich ermöglicht die Analyse nur die Beurteilung einer strukturellen oder durchschnittlichen Lohndiskriminierung. Damit ist aber keine Aussage über die Lohndiskriminierung zwischen einzelnen Arbeitnehmenden möglich. Es kann davon ausgegangen werden, dass Unternehmen mit einer strukturellen Lohndiskriminierung von 4% individuelle Fälle von sehr hoher Lohndiskriminierung aufweisen, da es sich bei den 4% lediglich um Durchschnittswerte handelt. Tatsächlich kann aber auch bei einem Analysewert von 0 Arbeitnehmer A unerklärt deutlich mehr verdienen als Arbeitnehmerin B, obwohl sie exakt die gleichen Voraussetzungen mitbringen und die gleichen Tätigkeiten ausführen. Somit kann Lohndiskriminierung auch in Unternehmen bestehen, welche in der Analyse keine unerklärten Geschlechtseffekte aufweisen. Die Lohngleichheitsanalyse kann somit in keinem Fall zeigen, ob die Lohngleichheit eingehalten ist. Sie kann nur zeigen, ob und in welchem Ausmass strukturelle Lohndiskriminierungen bestehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lohndiskriminierungen bestehen, sind aber in Unternehmen mit einer höheren ausgewiesenen strukturellen Diskriminierung deutlich grösser und dürften in Einzelfällen weit über der durchschnittlichen Lohndiskriminierung liegen. Auch dies spricht dafür, keine Toleranzschwelle zuzulassen.
Toleranzschwelle gehört abgeschafft
Für die Toleranzschwelle bei Lohnanalysen gibt es weder eine methodische noch eine juristische Rechtfertigung. Auch aufgrund der Tatsache, dass keinerlei Sanktionen bestehen, ist die Toleranz gegenüber strukturellen Diskriminierungen irritierend. Travail.Suisse fordert deshalb die Abschaffung dieser ungerechtfertigten und gesetzlich nicht haltbaren Toleranzschwelle. Dies umso mehr, als die strukturelle Diskriminierung nur die systemische Dimension zeigt. Denn, wenn bereits die strukturelle Lohndiskriminierung hoch ist, dann dürfte die individuelle Lohndiskriminierung in Einzelfällen teilweise weit höher ausfallen. Das Ziel der Lohnanalysen muss deshalb eine unerklärte Lohndifferenz von 0 in allen Unternehmen sein.
Quellen:
- Chavez-Juarez F. und R. Graf (2021) : « Réflexion empirique sur le seuil de tolérance utilisé lors des contrôles de l’égalité salariale », Studie im Auftrag des Büros für die Gleichstellung von Mann und Frau Kanton Waadt, Lausanne
- Ebenda