Die Kinderbetreuung nicht mehr den Grosseltern aufbürden!
Die jüngste vom Bundesamt für Statistik veröffentlichte Datenerhebung zu der Frage, wie Kinder bis zum zwölften Altersjahr betreut werden, bringt keine neuen Erkenntnisse. Doch die konkreten Zahlen beweisen einmal mehr, wie eminent wichtig es ist, öffentliche Mittel nachhaltig in qualitativ hochstehende, verlässliche und für die Eltern erschwingliche Betreuungsinfrastrukturen zu investieren. Die Coronakrise hat gezeigt, dass es keine sichere Lösung ist, sich auf das – durchaus beachtliche – Engagement der Grosseltern zu verlassen. Die Wirtschaft braucht uns alle – insbesondere die Frauen. Aus diesem Grund besteht in verschiedenen Bereichen Handlungsbedarf.
Die am 25. Mai 2020 vom Bundesamt für Statistik BFS publizierten Zahlen (1) bringen bereits vorhandene Erkenntnisse auf den neuesten Stand. Die wichtigsten Trends werden bestätigt:
- Die Mehrheit der Kinder unter 13 Jahren wird familienergänzend betreut (64% der Kinder);
- Die Betreuung durch die Grosseltern ist etwa gleich stark verbreitet wie die Inanspruchnahme institutioneller Betreuungsstrukturen (33% respektive 32%); die Grosseltern leisten dabei 160 Millionen überwiegend unbezahlte Arbeitsstunden im Gesamtwert von 8 Milliarden Franken.
- Die Inanspruchnahme von externen Betreuungsstrukturen ist für Familien im städtischen Umfeld von zentraler Bedeutung (4 von 5 Familien nutzen diese Angebote);
- Auch in ländlichen Regionen ist der Bedarf nach institutionellen Betreuungsangeboten nachweislich vorhanden: Zwei Drittel der Familien machen davon Gebrauch;
- Die Verfügbarkeit von familienergänzenden Betreuungsstrukturen ist für Alleinerziehende lebenswichtig (fast 50% der Kinder aus Einelternfamilien werden in einer Krippe oder in einer ausserschulischen Betreuungseinrichtung betreut, gegenüber 30% der Kinder aus Paarhaushalten;
- Wenig überraschend ist, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund öfter in institutionellen Betreuungseinrichtungen als von den eigenen Grosseltern betreut werden, da letztere oft im Ausland leben (nur 16% dieser Familien können für die Kinderbetreuung auf die Grosseltern zurückgreifen).
Andererseits wird einmal mehr eine grosse Lücke sichtbar: Auf der Angebotsseite fehlt es an landesweit harmonisierten Daten. Da die Organisationskompetenz bei den Kantonen liegt, ist es praktisch unmöglich, sich ein Gesamtbild von der Lage zu machen. Lediglich einige Grossstädte publizieren die Zahl der verfügbaren Betreuungsplätze oder die Zahl der betreuten Kinder. Diese Situation ist unhaltbar und unwürdig für ein Land, das die verschiedenen Infrastrukturen des Service public verwalten muss.
Immense Bedürfnisse, die es unverzüglich und vorausschauend zu decken gilt
Die grossen Städte haben die zentrale Bedeutung erkannt, die den familienergänzenden Betreuungsstrukturen von der Wiege bis zum Ende der Schulpflicht auf Sekundarstufe I zukommt. «Nachfrage, Angebot und Nutzung stehen miteinander in Wechselwirkung», heisst es in der Publikation des BFS. Mit anderen Worten: Es genügt nicht, darauf zu warten, dass die Familien einen Bedarf anmelden, bevor man Krippenplätze anbietet, wie manche Gemeinden immer noch argumentieren. Wenn ein Bedarf besteht und das Kind einige Monate alt ist, finden die Familien eine Lösung, was immer es auch kosten mag. Und diese Kosten sind bekannt: Sie zeigen sich insbesondere im abnehmenden Beschäftigungsgrad der Frauen – speziell dort, wo das Betreuungsangebot ungenügend (fehlende Krippenplätze, Wartelisten) oder finanziell untragbar ist oder wo die Grosseltern die Betreuung der Kleinkinder nicht übernehmen können.
Selbst wenn die Familien eine institutionelle Betreuung in Anspruch nehmen, sind damit nicht alle Bedürfnisse abgedeckt: in mehr als jedem zehnten Fall haben die Eltern einen zusätzlichen Betreuungsbedarf. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die tatsächlichen Bedürfnisse noch viel grösser sind: In einer Zeit, in der die Grosseltern aufgrund der Coronakrise und der damit verbundenen Risiken für gefährdete Personengruppen als mögliche Betreuer wegfallen, müsste das Drittel der Kinder im Alter von 0–12 Jahren, die bis dahin von ihren Grosseltern betreut wurden, in die Rechnung einbezogen werden. Aber auch in normalen Zeiten wäre es falsch, zu glauben, dass alle Grosseltern Freudesprünge machen, wenn ihnen die Betreuung ihrer Enkelkinder aufgebürdet wird (auch wenn viele diese Aufgabe aus freiem Willen und mit Freude übernehmen). Sie sind jedoch keineswegs immer begeistert, wenn sie als Lückenbüsser «eingespannt» werden, weil keine andere Lösung verfügbar ist.
Die Frauen wollen mehr arbeiten. Unter bestimmten Voraussetzungen:
Eine andere interessante Studie, wenngleich in einem kleineren Rahmen, ist jene von Pro Familia Schweiz , welche einen Tag nach der Studie des BFS veröffentlicht wurde. 500 berufstätige Mütter aus der ganzen Schweiz wurden zu ihrer Zufriedenheit mit ihrer Situation hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie befragt. Bekanntlich arbeiten die Frauen mehrheitlich Teilzeit, ein Umstand, der nicht immer auf eine wirklich freie Entscheidung zurückzuführen ist; vielmehr wird dieser Entscheid oft durch das Umfeld diktiert (der Partner kann nicht Teilzeit arbeiten, Schwierigkeit, einen Krippenplatz zu finden oder zu bezahlen, sozialer Druck usw.).
In der Schweiz herrscht seit mehreren Jahren ein Mangel an qualifizierten Fachkräften, und die Wirtschaft hat natürlich erkannt, dass die Frauen ein sehr interessantes Fachkräftepotenzial sind, da sie über eine sehr gute Ausbildung und wertvolle berufliche und private Erfahrungen verfügen.
Regelmässig und immer öfter werden die Frauen dazu aufgerufen, mehr zu arbeiten. Sind die Frauen bereit, ihren Beschäftigungsgrad zu erhöhen? Ja, antworten 70% der befragten Frauen, aber nur, wenn alle nötigen Rahmenbedingungen erfüllt sind.
Die erste Bedingung, die von den im Rahmen der Studie von Pro Familia (2) Schweiz befragten Frauen genannt wird, betrifft die hohen Kosten der Betreuungsangebote. Weitere notwendige Rahmenbedingungen sind: mehr Flexibilität in Bezug auf den Arbeitsort, eine lohnende reale Abgeltung der Arbeitsleistung statt einer Benachteiligung der Doppelverdiener durch die Auswirkungen der kalten Progression (3) sowie eine bessere Aufteilung der Familien- und Hausarbeit innerhalb der Partnerschaft. Die Frauen leiden allzu oft unter einer «Doppelbelastung».
Handlungsbedarf auf mehreren Ebenen
Die jüngsten Daten bestätigen verschiedene Forderungen, die Travail.Suisse als wichtig erachtet: Auf nationaler Ebene muss die Förderung der familienergänzenden Kinderbetreuung verbindlich festgeschrieben werden, beispielsweise mit einem flächendeckenden, qualitativ guten, koordinierten und bezahlbaren Programm für Kinder ab drei Monaten und bis zum Ende der Schulpflicht. Dies verlangt die Motion (4), die Adrian Wüthrich, der Präsident von Travail.Suisse, vor einem Jahr im Nationalrat eingereicht hat und die vom Parlament bisher noch nicht behandelt wurde. Die Frage der Aufteilung der Finanzierung der familienergänzenden Betreuungsstrukturen steht im Zentrum eines noch aufzubauenden Dispositivs. Der Staat muss sich finanziell stärker beteiligen, um die Eltern zu entlasten. Sich hinter dem Föderalismus zu verstecken, ist nicht länger tolerierbar: Wir erwarten von Regierung und Parlament einen klaren Willen, die gesetzlichen Hindernisse zu beseitigen.
Die Einführung der Individualbesteuerung ist unerlässlich. Eine gemeinsame Steuererklärung für verheiratete Paare hat zur Folge, dass das reale Arbeitseinkommen eines Partners verschleiert wird, und zwar jenes Partners, der am wenigsten verdient (oft ist dies die Frau). Die Vorteile eines Individualbesteuerungsmodells wurden im Positionspapier von Travail.Suisse für eine zeitgemässe Gleichstellungspolitik (5) im Detail beschrieben.
Schliesslich ist eines klar: Männer sind auch Väter; sie müssen das Recht haben, sich neben der Arbeit auch um ihre Familie zu kümmern und ihre Verantwortung so wahrzunehmen, wie sie dies gerne möchten. Es ist an der Zeit, ein echtes Recht auf Reduktion des Arbeitspensums einzuführen, wenn Arbeitnehmende familiäre Verpflichtungen übernehmen (Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen) – ein Recht, das für Männer und Frauen gleichermassen gelten muss.
Und natürlich ist es auch höchste Zeit, dass ein Vaterschaftsurlaub für die Zeit rund um die Geburt eines Kindes eingeführt wird. Zumindest zu diesem Punkt erhält das Schweizer Stimmvolk am kommenden 27. September dank dem Einsatz von Travail.Suisse und zahlreichen Frauen-, Männer- und Familienverbänden die Möglichkeit, ein Ja für einen Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen in die Urne (6) zu legen . Zwar handelt es sich um eine Minimalvariante des Vaterschaftsurlaubs; dennoch bietet sich hier eine einmalige Gelegenheit, die Familienpolitik in der Schweiz einen Schritt voranzubringen – eine Gelegenheit, die man unter keinen Umständen verpassen sollte.
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- Familien- und schulergänzende Kinderbetreuung im Jahr 2018, BFS, 25. Mai 2020
- ProFamilia Schweiz – Studie zur Arbeitszufriedenheit von Müttern, 26. Mai 2020
- Bei der Paarbesteuerung führt das kumulierte Einkommen der beiden Partner zu einem höheren Steuersatz und zu höheren Krippengebühren, deren Automatismus zur Folge hat, dass das tiefere Einkommen, meist das der Frau, die Teilzeit arbeitet, durch die zusätzlichen Kosten zu einem grossen Teil – oder gar vollständig – aufgezehrt wird.
- 19.3190 Motion Adrian Wüthrich – Rahmengesetz für eine schweizweite familienergänzende Kinderbetreuung zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zur Gleichstellung von Mann und Frau und zur Chancengerechtigkeit der Kinder. 20. März 2019.
- Valérie Borioli Sandoz, Gleichstellung von Frau und Mann heute und morgen – 28 Forderungen für mehr Wahlfreiheit und zur Gewährleistung der Lebensqualität von Arbeitnehmenden, Travail.Suisse, Bern, 28. Mai 2018
- Um die Kampagne für den Vaterschaftsurlaub zu unterstützen: www.vaterschaftsurlaub.ch