Corona-Virus: Wenn die Vereinbarkeit nicht mehr möglich ist
In der momentanen Krisensituation infolge der COVID-19-Pandemie braucht es die Massnahmen der Regierung. Viele Familien, die ihre Kinder nun selbst betreuen müssen, können keinen Anspruch auf Erwerbsausfallentschädigungen geltend machen, weil Telearbeit nicht als Arbeit gilt. Diese Vielzahl an beruflichen, familiären und auch schulischen Aufgaben und Pflichten zermürben die Eltern, ohne dass sie auf Unterstützung – weder zeitliche noch finanzielle – hoffen können. Die Vereinbarkeit hat in dieser Zeit einen schweren Stand.
Familien, bei denen beide Elternteile zusammen über 100 % arbeiten, sind bei der Regierung in einen toten Winkel geraten. Diese Familien brauchen dringend besondere Massnahmen. Im Rahmen der Massnahmen, die der Bundesrat in Anbetracht der aktuellen Pandemie getroffen hat, wurde angekündigt, dass Eltern, die weiterhin ausser Haus arbeiten müssen, bei einer Schliessung der Kindertagesstätte oder Schule Anspruch auf Erwerbsausfallentschädigungen haben sollen. Diese Massnahme klingt erst einmal ganz wunderbar. Aber wie sieht sie in der Praxis aus? Erst wenn man die Details betrachtet, treten die Probleme zutage.
Telearbeit ist keine Arbeit
Nur Eltern, die weiterhin an ihrem Arbeitsplatz, also nicht zuhause, arbeiten müssen und keine Möglichkeit haben, ihre Kinder selbst zu betreuen oder fremdbetreuen zu lassen (ohne Risikopersonen wie die Grosseltern einzuspannen), können Entschädigungen der Erwerbsersatzordnung (EO) beanspruchen. Das ist der Grundsatz.
In der Praxis bedeutet das Folgendes:
- Sobald ein Elternteil die Möglichkeit hat, Telearbeit zu machen, besteht kein EO-Anspruch, weil
- Telearbeit keinen Anspruch auf Entschädigungen begründet
- Wenn beide Elternteile ausser Haus arbeiten und die anderen Bedingungen erfüllen, erhalten sie nur eine Entschädigung je Arbeitstag, auch wenn beide Elternteile ihre Arbeit unterbrechen müssen
Es ist stossend, wie die Telearbeit von den Behörden eingestuft wird. Wie kann man davon ausgehen, dass in aller Ruhe Telearbeit geleistet werden kann, wenn Eltern sich gleichzeitig um Kleinkinder, die nicht mehr in die Kita können, oder schulpflichtige Kinder, deren Schule geschlossen wurde, kümmern müssen?
Telearbeit ist Arbeit ohne Arbeitsweg. Für die Betreuung von Kleinkindern braucht die volle Aufmerksamkeit, parallel dazu mit einem Auge auf den Computerbildschirm zu schielen, geht nicht. Aus Sicherheits- und erzieherischen Gründen erfordern Kleinkinder die Anwesenheit und die ständige Aufmerksamkeit von mindestens einem Elternteil. Bei den grösseren Kindern fungieren die Eltern neu auch als Lehrperson. Die Behörden erwarten von Eltern, deren Kindern nun nicht mehr in die Schule können, dass sie sozusagen die Lehrpersonen ersetzen. Es ist ganz offensichtlich, dass die Planung der Tage in diesem Lockdown für die Familien zur unlösbaren Aufgabe geworden ist.
Immer mehr erschöpfte Arbeitnehmende melden sich zu Wort: Sie haben tagsüber keine Atempausen und können eigentlich erst am Abend richtig arbeiten, nachdem die Kinder eingeschlafen sind. Bei Einelternhaushalten ist die Situation noch schlimmer, da der alleinstehende Elternteil seine Aufgaben nicht kurz einem Lebenspartner oder einer Lebenspartnerin überlassen kann.
Wenn beide Elternteile zusammen mehr als 100 % arbeiten, ist rasch klar, dass es schwierig ist, sogar in Telearbeit das eigene Arbeitspensum zu leisten. Woran es den Familien, bei denen beide Elternteile arbeiten, mangelt, ist ganz eindeutig Zeit. Zweiverdienerfamilien leisten einen grossen Beitrag zur Gesellschaft – einerseits bei den Steuern und den Sozialversicherungen, aber auch hinsichtlich der öffentlichen und privaten Investitionen für die Berufsbildung, die sich durch diese doppelte Erwerbstätigkeit auszahlen. Jetzt müssen sie in dieser Krisensituation mit einer wirksamen Massnahme entlastet werden.
Die Arbeitgeber müssen – wie sonst auch – ihre Verantwortung wahrnehmen und sich um den Gesundheitsschutz ihrer Angestellten kümmern. Die Erlaubnis für Telearbeit ist unter Berücksichtigung der Umstände im Privat- und Familienleben sowie unter Einhaltung der Arbeitsgesetzgebung zu gewähren. Die Erfassung der Arbeitszeit und der Arbeitsphasen ist unerlässlich.
Der Krippenplatz kostet weiterhin, auch wenn man ihn nicht nutzt
Ein weiteres Problem für die Familien sind finanzielle Aspekte. Die Schulen wurden per Bundesratsbeschluss geschlossen. Die Kindertagesstätten bleiben grundsätzlich geöffnet. Ansonsten müssen die Kantone alternative Betreuungsmöglichkeiten anbieten. Dass das Vorgehen bei Schulen und Krippen unterschiedlich ist, lässt sich insbesondere anhand der Verbreitung des Virus erklären, zumal der Generationenmix in den Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder grundsätzlich deutlich weniger ausgeprägt ist. Ausserdem müssen Personen, die zur Grundversorgung unseres Landes beitragen, ihrer Arbeit weiterhin nachgehen können.
In der Praxis jedoch wird den Eltern dringend dazu geraten, ihre Kinder nicht in den noch geöffneten Betreuungsstrukturen betreuen zu lassen. Die Behörden schreiben ihnen Briefe mit Empfehlungen, in denen sie zur Solidarität aufrufen. Die Eltern, die sich naturgemäss um die Gesundheit ihrer Kinder sorgen, lassen sich leicht beeinflussen und können die Konsequenzen nicht sofort absehen.
Eine unmittelbare Folge ist, dass die Kosten für eine Betreuung, die sie nicht mehr nutzen, weiterhin bezahlt werden müssen. Absolut verständlich: Da es immer noch zu wenige Kitaplätze gibt, wollen die Eltern nicht riskieren, ihre Plätze zu verlieren, indem sie die Zahlungen einstellen. Die Entscheidung, die Kinder aus Überwägungen des Gesundheitsschutzes nicht mehr in die Krippe zu bringen, ist zwar legitim, aber es handelt sich dabei um eine persönliche Entscheidung. Damit verlieren die Eltern ihren Anspruch auf Erwerbsausfallentschädigungen der EO (auch wenn die anderen Bedingungen erfüllt sind, etwa weiterhin ausser Haus arbeiten zu müssen, keine Telearbeit für beide Eltern). Wenn sie diesen «Empfehlungen» oder «Ratschlägen» Folge leisten, können sie keinen offiziellen Entscheid der zuständigen Behörden zur Schliessung der Kindertagesstätte vorlegen.
Kafkaeske Situationen
Die unvollständigen Entscheidungen, die der Bundesrat getroffen hat, führen zu kafkaesken Situationen, wo Familien, die vor der Krise keinen Krippenplatz hatten, sondern die Grosseltern zur Kinderbetreuung einsetzten, Anspruch auf Erwerbsausfallentschädigungen haben. Denn die über 65-Jährigen müssen unbedingt zuhause bleiben und können zum Kinderhüten nicht einspringen. Auf der anderen Seite bezahlen andere Familien weiterhin für eine Leistung, von deren Nutzung ihnen stark abgeraten wird – und sie haben sehr häufig keinen Anspruch auf Entschädigungen.
Die Krisensituation infolge der COVID-19-Pandemie birgt für alle Schwierigkeiten, insbesondere für Familien mit kleinen Kindern. Doch eins macht diese Situation auf jeden Fall deutlich: Die Einrichtungen für familienergänzende Kinderbetreuung sind Teil eines echten Service public, der jederzeit gewährleistet sein muss. Daher ist diese Dienstleistung nicht mehr mehrheitlich von den Eltern, sondern von der öffentlichen Hand zu finanzieren.
Kurzfristig wird erwartet, dass der Bundesrat für Familien, bei denen beide Elternteile zusammen mehr als 100 % arbeiten, eine wirksame Massnahme ergreift.