Das neue Parlament steht in der Familienpolitik vor zentralen Herausforderungen. Sollen Geburtenrate und Erwerbsbeteiligung als Antwort auf die demographische Entwicklung gesteigert werden, braucht es ein verstärktes und durchdachtes familienpolitisches Engagement des Bundes. Dieses muss finanzielle und zeitliche Entlastungsmassnahmen sowie eine erhöhte Vereinbarkeit von Familie und Beruf enthalten.
Die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen es einmal mehr deutlich: eine Familie zu haben ist ein beträchtliches finanzielles Risiko und Armutsfalle Nummer eins1. Das Fehlen einer eigentlichen Familienpolitik zeigt sich nicht nur in der Armutsbekämpfung. Zu sehr wird heute die Familienpolitik als Sammelsurium von Einzelmassnahmen betrieben. Der Bund zieht sich mit Verweis auf die Kantone weitgehend aus der Verantwortung. Das neue Parlament muss in der kommenden Legislatur die Basis dafür legen, dass auch in der Schweiz eine kohärente Familienpolitik möglich wird.
Demografische Entwicklung erhöht Wichtigkeit von durchdachter Familienpolitik
In der Familienpolitik sind drei zentrale Herausforderungen zu bewältigen.
1. Es braucht einen substanziellen Ausgleich der finanziellen Belastung durch Kinder.
2. Es braucht Massnahmen, damit genug Zeit für das Familienleben bleibt.
3. Es braucht eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Aus gesellschaftlicher Sicht ist eine Bewältigung dieser drei Herausforderungen zentral. Bleibt den Familien weiterhin zu wenig Geld, Zeit und Vereinbarkeit, wird dies entweder dazu führen, dass auf Kinder verzichtet wird oder aber die Erwerbsbeteiligung von Müttern (und Vätern) zu gering ausfällt. Weder eine tiefe Geburtenrate – insbesondere von gut Ausgebildeten – noch eine zu tiefe Erwerbsbeteiligung können wir uns aufgrund der demografischen Entwicklung leisten. Es braucht deshalb ein verstärktes Engagement des Bundes in allen drei genannten Bereichen. Einen konkreten Ansatzpunkt, um ein verstärktes familienpolitisches Engagement des Bundes zu bekräftigen, bietet der gegenwärtig diskutierte Verfassungsartikel zur Familienpolitik. Dieser geht auf die parlamentarische Initiative „Verfassungsbasis für eine umfassende Familienpolitik“2 zurück.
Was braucht es für konkrete Massnahmen, damit Familienpolitik wirksamer wird? Einige Beispiele:
Finanzielle Entlastung: Höhere Kinderzulagen notwendig
Dank der Travail.Suisse-Initiative „für faire Kinderzulagen!“ gelten heute schweizweit einheitliche Mindestansätze für Kinder- und Ausbildungszulagen. Auch Selbständigerwerbende haben neu in der ganzen Schweiz Anspruch auf Zulagen. Die heute geltenden Mindestansätze betragen 200 Franken (Kinderzulagen) bzw. 250 Franken (Ausbildungszulagen). In Anbetracht der Leistungen der Familien für die Gesellschaft und angesichts der direkten und indirekten Kosten (Erwerbsausfall), welche durch Kinder nebst aller Freude entstehen, sind diese Zulagen zu tief. Travail.Suisse fordert deshalb eine wesentliche Erhöhung der Kinder- und Ausbildungszulagen. Weitere finanzielle Entlastungsmassnahmen sind im Bereich der Familienbesteuerung anzustreben. Weiter ist zur Bekämpfung der Kinderarmut zentral, dass die in den Kantonen existierenden Instrumente der Ergänzungsleistungen für Familien und der Alimentenbevorschussung vom Bund gefördert werden. Und letztlich muss der Bund mittelfristig nicht nur dafür sorgen, dass das Angebot an familienexternen Tagesstrukturen ausgebaut wird. Soll die Erwerbsbeteiligung von Vätern und Müttern markant erhöht werden, muss er zusammen mit den Kantonen auch gewährleisten, dass diese Tagesstrukturen kostengünstig, aber im Sinne eines qualitativ guten Service Public angeboten werden.
Zeitliche Entlastung: Vaterschafts- und Elternurlaub
Der Start ins Familienleben ist wichtig. Es braucht Zeit, sich als Familie einzurichten und zu finden. Die Einführung des Mutterschaftsurlaubs war ein wichtiger Meilenstein, der über lange Jahre erkämpft werden musste. Damit ist es jedoch nicht getan. Wenn man will, dass auch Väter im Familienleben stärker Verantwortung übernehmen, muss man ihnen ebenfalls die Gelegenheit geben, sich schnell nach der Geburt um die Neugeborenen zu kümmern. Deshalb setzt sich Travail.Suisse seit längerem für die Einführung eines Vaterschaftsurlaubs von minimal 20 Tagen ein. Der Urlaub kann auch in einzelnen Tagen bezogen werden und dazu führen, dass das Modell des Teilzeit-Arbeitens von Vätern schnell nach der Geburt gelebt wird. So sind diese auch später bereit mit Teilzeit-Arbeit zu ermöglichen, dass ihre Partnerinnen ebenfalls wieder ins Erwerbsleben einsteigen. Ein Vaterschaftsurlaub ist ein erster Schritt hin zum Modell eines gleichberechtigten Elternurlaubs, welcher zum Beispiel in Skandinavien längstens Realität ist. Es zeigt sich klar, dass diese Massnahme positive Auswirkungen auf die Geburtenrate und das Familienleben hat.
Verbesserte Vereinbarkeit: flächendeckendes Betreuungsangebot, Teilzeitarbeit und Lohngleichheit
Zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist es dringend notwendig, dass der Bund eine aktivere Rolle einnimmt. Die Schweiz gehört innerhalb der OECD mit 0.2 Prozent des BIP zu den Schlusslichtern bei Investitionen in die Betreuung von Kindern bis zum Alter von vier Jahren. Es stimmt bedenklich, wenn vergleichbare Länder wie Dänemark zehnmal mehr in diesen Bereich investieren. Im Harmos-Konkordat der Kantone ist vorgesehen, dass schulergänzende Betreuungsstrukturen zur Verfügung gestellt werden. Wenn es der Bund verpasst, auch für Kleinkinder ein genügendes Betreuungsangebot zur Verfügung zu stellen, steigen viele Eltern, noch bevor die Kinder ins schulpflichtige Alter kommen, wegen fehlender Betreuungsstrukturen aus dem Arbeitsmarkt aus. Auch um soziale Ungleichheiten zu verringern, müssen die finanziellen Beiträge im Vorschulalter deutlich erhöht werden. Weitere Voraussetzungen für eine verbesserte Vereinbarkeit sind auch die konsequente Förderung von Teilzeitarbeit auf allen Stufen sowie eine strengere Gesetzgebung bezüglich der Lohngleichheit zwischen Mann und Frau. Nur wenn Väter und Mütter für gleiche Arbeit gleich viel verdienen, können Sie frei entscheiden, wie Sie Familien- und Berufsleben vereinbaren wollen.
Sozialer Fortschritt ist möglich
Sozialer Fortschritt in der Familienpolitik ist möglich. Das hat die Vergangenheit immer wieder gezeigt. Nun ist es an der neuen Mitte im Parlament zu zeigen, dass auch ihr etwas an den Familien in der Schweiz liegt.
[1] Vgl. Medienmitteilung vom 15.12. 2011 zur Erhebung über die Einkommen und die Lebensbedingungen (SILC)