Fachkräftemangel: Wie wär’s, wenn die Unternehmen ihre Praktiken ändern würden?
Angesichts des herrschenden Mangels an Fachkräften wenden sich Unternehmen und die Wirtschaft im Allgemeinen an Personen, die ein grosses Potenzial für Rekrutierung oder Pensenerhöhung aufzuweisen scheinen: Frauen. Verschiedene Studien und Untersuchungen versuchen herauszufinden, wo und wie man ansetzen könnte. Eine Analyse der neuesten Statistiken liefert einige relevante Hinweise und zeigt Wege für unmittelbare Massnahmen auf, insbesondere innerhalb der Unternehmen.
Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften hat mehrere Gesichter. Während fast vier von fünf kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) im vergangenen Jahr Schwierigkeiten hatten, ihre offenen Stellen zu besetzen, variiert die Situation in den einzelnen Branchen erheblich (1). Im Bereich Administration und Organisation hatten nur 10% der Unternehmen im letzten Jahr Schwierigkeiten bei der Besetzung von Stellen, während im Handwerk und Baugewerbe 80% der Unternehmen von Arbeitskräftemangel betroffen waren. In den Bereichen Technik, Informatik, Beratung und Verkauf ist jedes zweite Unternehmen von dem Problem betroffen.
Angesichts dieses mehrfach bestätigten Problems des Fachkräftemangels wenden sich Unternehmen und die Wirtschaft im Allgemeinen an Personen, die ein erhöhtes Rekrutierungs- oder Einstellungspotenzial zu haben scheinen: Frauen, da diese mehrheitlich Teilzeit arbeiten. Doch wie lassen sich Frauen (stärker) in den Arbeitsmarkt integrieren? Und welche Herausforderungen bringt dies mit sich?
Diese Frage ist bedeutend, denn das Postulat der Basler Nationalrätin Sibel Arslan 20.4237, das im Juni 2021 vom Nationalrat angenommen wurde, wird bald vom Bundesrat beantwortet werden. Er hat das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO beauftragt, zu analysieren, welche Massnahmen geeignet sind, um den Wiedereinstieg von Frauen in die Berufswelt zu erleichtern. Bereits jetzt liegen dazu Studien vor. Was sagen uns diese?
Das Potenzial der weiblichen Arbeitskräfte ist kleiner als man meint
Laut BfS (2) sind Frauen und Männer ohne Kinder unter 15 Jahren im Jahr 2021 zu 79% bzw. 85% erwerbstätig, was einer Differenz von 6 Prozentpunkten entspricht. Die Geburt von Kindern verstärkt diesen Unterschied und wird sich nachhaltig auf die Erwerbsbeteiligung der Frauen auswirken, nicht aber auf die der Männer. Während 96,5 % der Männer mit Kindern unter 15 Jahren arbeiten – eine stabile Zahl, die sich im Laufe der Jahre kaum verändert hat (98 % im Jahr 1991) –, arbeiten 81,7 % der Frauen mit Kindern, was einem Unterschied von fast 15 Prozentpunkten entspricht. Im Gegensatz dazu hat die Erwerbsquote von Müttern in den letzten 40 Jahren stark zugenommen. 1991 waren nur 60% der Mütter mit jüngeren Kindern erwerbstätig.
Aus diesen wenigen Zahlen lassen sich drei Dinge ableiten:
- Die unterschiedliche Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern ist bereits ohne Kinder in der Partnerschaft eine Realität (Differenz von 6 Punkten). Dies wirft Fragen zu den Geschlechterrollen auf, die von der Gesellschaft vermittelt und von einem Teil der Bevölkerung übernommen werden.
- Die Geburt von Kindern wirkt sich auf Frauen viel stärker aus als auf Männer (Differenz von 15 Prozentpunkten): Während Frauen in der Regel ihren Beschäftigungsgrad senken, erhöhen Männer diesen. Dies wirft die Frage auf, wie schwer die Vereinbarkeit von Beruf und Familie vor allem für Frauen wiegt – und in diesem Zusammenhang auch Fragen zu Teilzeitarbeit und Elternurlaub (sowie andere Massnahmen zur Erleichterung der Vereinbarkeit).
- Trotz Kindern sind Mütter weiterhin sehr aktiv auf dem Arbeitsmarkt.
Im Klartext heisst dies: Frauen haben in den letzten vierzig Jahren nicht auf die Rufe der Wirtschaft gewartet, um nach der Geburt ihrer Kinder wieder Fuss zu fassen in der Arbeitswelt. Heute ist die grosse Mehrheit der Frauen berufstätig, ob mit oder ohne Kinder. Sich allein auf eine höhere Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt zu verlassen, um dem Problem des Fachkräftemangels zu begegnen, ist deshalb ein Trugschluss. Dafür sind die Rahmenbedingungen auf staatlicher Ebene (Verfügbarkeit und Kosten familienergänzender Betreuung) und in den Unternehmen (familienfreundliche Arbeitsbedingungen für Männer und Frauen) unzureichend.
Teilzeitarbeit als Antwort der Familien auf die Erfordernisse der Vereinbarkeit
Teilzeitarbeit ist die Antwort, die Mütter meist wählen, um das Familienleben mit dem Berufsleben beider Elternteile in Einklang zu bringen. Auch Teilzeitarbeit hat unterschiedliche Gesichter und hat sich im Laufe der Zeit stark verändert. Im Jahr 2021 arbeiteten vier von fünf Müttern (78,5 %) in Teilzeit, während dies bei einem von neun Vätern (12,8 %) der Fall war (3). Die sehr tiefen Teilzeitpensen (unter 50 %), in denen 1991 74,3% der erwerbstätigen Mütter arbeiteten, hat zugunsten von höheren Teilzeitpensen (50-89 %) abgenommen (2021: 66,6 % der erwerbstätigen Mütter).
Im Klartext heisst dies: Mehr Frauen arbeiten und sie arbeiten immer mehr. Bei Männern ist dies nicht der Fall.
Teilzeitarbeit ist jedoch nicht immer ein freiwilliger Entscheid. Manchmal wird sie aufgezwungen, etwa von Unternehmen, die dies gar als Werbeargument nutzen. Andere Unternehmen nutzen Teilzeitarbeit, um die Beiträge für die berufliche Vorsorge zu umgehen. Wieder andere haben nicht genug Budget, um 100 % einzustellen. Diese erzwungene Teilzeitarbeit ist ein Problem für Geringverdienende.
Länger andauernde Teilzeitarbeit ist ein Problem, unter dem vor allem Frauen leiden. Für sie ist es oft schwierig, ihre Beschäftigungsquote wieder zu steigern, sobald die Kinder aus dem Kleinkindalter heraus sind. Ein Beweis dafür ist die grosse Zahl an Unterbeschäftigten unter den Müttern – Teilzeitarbeitenden also, die in einem höheren Pensum arbeiten möchten. Jede fünfte teilzeiterwerbstätige Mutter (19%) ist davon betroffen. Dies gilt insbesondere für Frauen ohne nachobligatorische Ausbildung (39%) und Frauen ausländischer Herkunft (31%).
Ebenfalls laut BfS (Referenz 3) wären über 55% der nicht-erwerbstätigen Mütter bereit, bei einem interessanten Angebot zu arbeiten. Die Lösung des Problems des Arbeitskräftemangels scheint also auch bei den Unternehmen selber zu liegen.
Die Problematik der Unterbeschäftigung von teilzeitbeschäftigten Müttern
Unterbeschäftigung betrifft, wie bereits erwähnt, hauptsächlich Frauen ohne nachobligatorische Ausbildung, aber auch fast 20% der Mütter mit einer abgeschlossenen Ausbildung auf Sekundarstufe II und 15% derjenigen mit einer abgeschlossenen Ausbildung auf Tertiärstufe.
Die Unterbeschäftigung verstärkt sich, wenn die Kinder älter werden. 13.2% der Mütter mit Kindern im Alter von 0 bis 2 Jahren sind von Unterbeschäftigung betroffen. Danach steigt die Quote stetig an und erreicht 24,5 %, wenn die Kinder zwischen 12 und 14 Jahre alt sind. Wenn man bedenkt, dass das Durchschnittsalter bei der Geburt des ersten Kindes bei über 31 Jahren liegt und dass eine Frau im Durchschnitt weniger als zwei Kinder hat (1,52 im Jahr 2021), ergibt sich Folgendes: Mütter erreichen, grob geschätzt, im Alter von 45 Jahren den Zeitpunkt, an dem sie ihr Erwerbspensum erhöhen können/möchten. Das ist ein kritisches Alter, wie wir weiter unten sehen werden.
Altersgrenzen verhindern Anstellungen
Die Frage des Alters verdient Aufmerksamkeit. In der Abstimmung vom 25. September wurde die Erhöhung des ordentlichen Rentenalters für Frauen auf 65 Jahre abgesegnet. Darüber hinaus zwingen die jüngsten Entscheide des Bundesgerichts, die sogenannte «45-Jahre-Regel» abzuschaffen (4), mehr Frauen dazu, nach einer Scheidung im fortgeschrittenen Alter wieder eine Stelle zu finden (im Durchschnitt endet in der Schweiz fast jede zweite Ehe in einer Scheidung). Das Alter wird zu einer unumgänglichen Frage.
Was für ein Paradoxon! Während die Mehrheit der befragten Personen in der KMU-Arbeitsmarktstudie (siehe Referenz 1) die besseren Leistungen von Arbeitnehmenden über 50 im Vergleich zur übrigen Belegschaft hervorhebt, haben die meisten KMU eine formelle oder informelle Altersgrenze für die Einstellung von neuen Mitarbeitenden. Bei 40% aller Unternehmen liegt diese Altersgrenze bei 54 Jahren, bei mittleren KMU (zwischen 10 und 49 Beschäftigten) gar bei 47% (5). Schlimmer noch: Bei einem von zehn Unternehmen liegt die Altersgrenze bereits bei 45 Jahren, bei den mittleren KMU (15 %) gar bei einem von sechs Unternehmen.
Doppelte Herausforderung
Die Herausforderung ist eine doppelte: Travail.Suisse setzt sich in erster Linie für die Bedürfnisse der hauptsächlich betroffenen Arbeitnehmerinnen ein. Insbesondere schlecht ausgebildete Arbeitnehmende und/oder jene ausländischer Herkunft, leiden deutlich stärker unter Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit, was sie in prekären Verhältnissen hält.
Die zweite Herausforderung ist die Schwierigkeit der Unternehmen, qualifizierte Arbeitskräfte zu rekrutieren. Diese Schwierigkeiten könnten jedoch stark reduziert werden, wenn die Unternehmen einerseits ihre Personalpolitik ändern würden, indem sie mehr Personen über 50 einstellen würden, und andererseits indem sie ihre Arbeitsbedingungen in einer Weise modernisieren würden, welche Arbeit und Privatleben der Arbeitnehmenden besser vereinbar machen würde.
Referenzen
- AXA KMU-Arbeitsmarktstudie (Juni 2022). Anmerkung: In dieser Studie, die nicht immer repräsentativ ist, um die Situation von KMU im Besonderen zu beleuchten, wurde der Pflege- und Gesundheitssektor als solcher nicht analysiert. Er ist wahrscheinlich in den Bereich «Dienstleistungen» integriert. Dieser Sektor leidet jedoch stark unter dem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften.
- BfS (2021): Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE)
- BfS (2022): Mütter auf dem Arbeitsmarkt im Jahr 2021
- Vgl. Travail.Suisse (2022): Frauen, Scheidung und beruflicher Wiedereinstieg: «An die Arbeit!»
- 39% der kleinen KMU (2-9 Angestellte) und 38% der grossen KMU (50 - 250 Angestellte) stellen keine Mitarbeiter über 54 Jahre ein. Die Altersgrenze von unter 45 Jahren gilt für 10 % der kleinen KMU, 15 % der mittleren KMU (10-49 Beschäftigte) und 6 % der grossen KMU, d. h. im Durchschnitt für 11 % aller Unternehmen.