Wenn auf Bundesebene nichts unternommen wird, wird sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer schwieriger gestalten. Arbeitnehmende und Unternehmen zahlen bereits einen hohen Preis für diese Spannungen, und dieser Preis wird steigen. Der Bund muss nun freiwillig und bestimmt handeln und massiv in Massnahmen zur Erleichterung der Vereinbarkeit investieren. Der Vorstand von Travail.Suisse, dem unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, hat die Situation erfasst, Fakten und Zahlen analysiert und im November 2018 eine entsprechende Resolution verabschiedet.
In der Schweiz fehlen die Rahmenbedingungen, um Berufstätigkeit und Privatleben miteinander zu vereinbaren. Es ist schwierig, Erwerbsarbeit, Familie und Angehörigenbetreuung unter einen Hut zu bringen, oder gar weitere Verpflichtungen einzubeziehen (politisches oder soziales Engagement usw.), welche die Vitalität unserer Gesellschaft gewährleisten. Die Situation wird sich nicht verbessern, ganz im Gegenteil. Wegen der demografischen Alterung der Bevölkerung, der niedrigen Geburtenrate und der steigenden Anforderungen des Arbeitsmarktes an die Arbeitnehmenden (Fragmentierung der Arbeitszeit, Flexibilität der Arbeitszeiten, Druck auf die Arbeitszeiterfassung) besteht ein grosses Risiko, dass es immer schwieriger wird, Privatleben – ob im familiären, sozialen oder politischen Umfeld – und Beruf unter einen Hut zu bringen.
Stress kostet die Unternehmen Milliarden
Die Spannungen zwischen Berufstätigkeit und privater Verantwortung nehmen zu. Welches sind die Folgen? Heute zeigen sie sich bereits in Form vom Stress, den die Arbeitnehmenden, die unter Druck sind, erleben. Schon 2003 hatte das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO einen Teil dieser Kosten beziffert und kam auf eine Summe von jährlich 4,2 Milliarden Franken. Eine Zahl, die nur die Kosten widerspiegelt, die bei den Unternehmen direkt in Form von Absenzen und Produktivitätsverlusten entstehen. Dazu kommen noch die Renten für Invalidität und vorzeitige Pensionierungen – was die Rechnung auf fast 10 Milliarden Franken ansteigen lässt . 2010 hat das SECO die Studie weitergeführt, diesmal ohne die Kosten zu beziffern, jedoch mit der Feststellung, dass der Anteil der betroffenen Personen deutlich gestiegen sei . Gesundheitsförderung Schweiz schätzt die Kosten, die allein zulasten der Unternehmen gehen, auf 6,5 Milliarden Franken im Jahr 2018 . Das ist ein enormer Produktivitätsverlust für die Wirtschaft und natürlich eine Verschwendung aus menschlicher Sicht.
Gesundheitskosten zulasten der Angestellten
Wenn man die Schnur spannt, reisst sie nur allzu häufig. Stress wirkt sich unweigerlich auf die Gesundheitskosten aus, weil Krankheiten sich chronisch breitmachen. Der Druck kann in der schlimmsten stressbedingten Krankheit münden: im Burn-out oder in emotionaler Erschöpfung. Bei einem Burn-out braucht es häufig einen ärztlich verordneten Arbeitsunterbruch. Während der Zeit der Arbeitsunfähigkeit gilt die Lohnfortzahlung, und die Angestellten sind vor einer Kündigung des Arbeitsvertrags geschützt (zwischen 3 Wochen und 6 Monaten). Doch die medizinischen Kosten für die Behandlung der Burn-out-Symptome wird von der Krankenversicherung der Angestellten bezahlt.
Die Studie «Barometer Gute Arbeit» ermöglicht es Travail.Suisse, zu bestätigen, dass 40 Prozent der Arbeitnehmenden häufig bis sehr häufig unter Stress stehen und dass diese Arbeitnehmenden dies grossmehrheitlich als (eher) belastend empfinden. Das 2018 zum vierten Mal erschienene Barometer zeigt eine ständige Zunahme des Anteils der Arbeitnehmenden, die sich nach einem Arbeitstag sehr häufig emotional erschöpft fühlen.
Zeitlich beschränkte und ungenügende Reaktionen
Angesichts dieser beunruhigenden Entwicklung reagiert der Bund mit wenig weit reichenden und zeitlich begrenzten Massnahmen. Das grösste Hindernis für eine gute Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben sind die fehlenden und/oder teuren Krippenplätze. Aus dem Grund hat das Parlament Impulsprogramme für die familienergänzende Betreuung verabschiedet, erstmals im Jahr 2003.
Leider sind diese Programme zeitlich beschränkt und sie werden von einer bürgerlichen Partei im Parlament stets heftig bekämpft. Das momentane 100 Millionen schwere Impulsprogramm ist auf fünf Jahre beschränkt (1.7.2018–29.6.2023). Es fördert nicht mehr die Schaffung neuer Plätze für die familienergänzende Betreuung, sondern soll die Kosten zulasten der Eltern senken und die Öffnungszeiten der Krippen an aussergewöhnliche Zeitpläne der Eltern anpassen. Doch der Finanzierungsbedarf ist immer noch sehr hoch. Gemäss der Einschätzung des Impulsprogramms bekommen 19,9 % der Kinder im Vorschulalter und 18 % der Kinder im Schulalter keinen Platz in solchen Einrichtungen, obwohl ein Bedarf seitens der Eltern besteht . Die Evaluation zeigt, dass 42 % der befragten Eltern die Auswahl an Kinderbetreuungsangeboten als ungenügend einstufen. Die Eltern bedauern, dass es in den Schulferien grosse Betreuungslücken gibt. Daher muss der Zweck dieser Programme in einem echten Rahmengesetz über die Bundesfinanzierung für familienergänzende Betreuungseinrichtungen für Kinder oder für unterstützte Angehörige beschrieben werden.
Resolution des Vorstands von Travail.Suisse zugunsten eines ehrgeizigen Aktionsplans
In Anbetracht der Situation hat der Vorstand von Travail.Suisse zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Resolution verabschiedet, die vom Bund fordert, massiv in die Vereinbarkeit zu investieren. Er untermauert seinen Entscheid durch bekannte Fakten und Zahlen, die letztlich ein düsteres Bild der heutigen und künftigen Lage zeichnen. Wenn man die Beschäftigungsfähigkeit und die Gesundheit der Arbeitnehmenden und langfristig die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen erhalten will, die übrigens bereits heute unter dem Fachkräftemangel leiden, braucht es ein freiwilliges und ehrgeiziges Vorgehen. Zu den bisher bereits investierten 2,2 Milliarden Franken müssen mindestens weitere 5 Milliarden hinzukommen, d. h. 500 Millionen pro Jahr während mindestens 10 Jahren, zulasten der Sozialversicherungen und der öffentlichen Hand. Dieser Aktionsplan muss alle als wirksam anerkannten Massnahmen für eine optimale Vereinbarkeit abdecken: Schaffung von Betreuungsplätzen für Kinder im Vorschul- und Schulalter und für betreute Personen, bezahlter Vaterschaftsurlaub von 20 Tagen, bezahlter Elternurlaub von 24 Wochen, Langzeiturlaub für betreuende Angehörige usw.
Der Vorstand von Travail.Suisse verlangt, dass die Schweiz, die als eines der reichsten Länder Europas eingestuft wird, bei den Ausgaben zugunsten von Familien und Vereinbarkeit nicht mehr als Schlusslicht fungiert. Unser Land ist eines der Industrieländer, die in Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) am wenigsten Geld für die Familienpolitik ausgeben, insbesondere was die Betreuung von Kleinkindern betrifft. Die gesamten öffentlichen Ausgaben (Bund, Kantone, Gemeinden) im Bereich der Kleinkinderbetreuung werden auf 600 Millionen Franken pro Jahr geschätzt, das entspricht 0,1 % des BIP. Das ist dreimal weniger, als der Durchschnitt der OECD-Länder (0,3 % des BIP) für diesen Bereich ausgibt .
Diese Resolution ermöglicht es den Nationalräten Adrian Wüthrich, Präsident von Travail.Suisse, und Jacques-André Maire, Vizepräsident, im Parlament aktiv zu werden. Denn wenn nichts unternommen wird, treffen die Auswirkungen zuerst die Arbeitnehmenden mit gesundheitlichen Konsequenzen und schliesslich die gesamte Wirtschaft. Für das Wohl aller ist es nun Zeit, Ehrgeiz walten zu lassen und zu investieren.