Die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie darf nicht Frauensache bleiben. Das trifft nicht nur auf die Arbeit zu Hause mit Kleinkindern zu, sondern muss in Zukunft auch für «Care»-Arbeit bei betagten Angehörigen gelten. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, hat deshalb mit Unterstützung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann ein neues Projekt lanciert: Eine gesamtschweizerische Internet-Plattform zum Thema «work + care», die sensibilisiert und informiert.
Die Problematik der Vereinbarkeit von bezahlter Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung stand in den vergangenen Jahren im Fokus der Sozialpartner und der Politik. Mit guten Grund, denn der Schweiz fehlt es noch immer an einer echten Familienpolitik. Das in diesem Bereich sehr zögerliche Parlament hat lediglich gewisse punktuelle Massnahmen beschlossen. Zwar wurde das Impulsprogramm des Bundes zur Schaffung von familienergänzenden Betreuungsplätzen für Kinder zum zweiten Mal verlängert, nachdem der Bundesrat vor kurzem seine Zustimmung gegeben hat . Weiter auf sich warten lassen hingegen etwa die Einführung eines Vaterschaftsurlaubs und die Schaffung eines Elternurlaubs. Erwerbsarbeit mit Verpflichtungen im familiären Bereich vereinbaren zu müssen, ist aber nicht nur für junge Eltern sondern auch für Erwerbstätige ab 40 Jahren eine Realität. Denn in diesem Alter stehen viele Erwerbstätige vor der täglichen Herausforderung, sich neben dem Beruf auch um betagte Eltern kümmern zu müssen. Hier sprechen wir von «work + care».
Die richtigen Worte finden
Die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Betreuung betagter Angehöriger ist ein breites Gebiet, mit dem sich verschiedene Kreise – Forschung, Verwaltung, Politik, Verbände – seit einiger Zeit befassen. Travail.Suisse hat bereits 2011, im Rahmen ihrer zehn Thesen zur Demografie , eine Vorreiterrolle übernommen.
«Die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie darf nicht Frauensache bleiben», lautete die sechste These. Unter diesem Leitmotiv hat Travail.Suisse nun ein Projekt lanciert, das den Arbeitstitel «Betagten Angehörigen helfen + arbeiten» trägt. Das «+» steht dabei für die Vereinbarkeit. Die Wortwahl ist durchaus von Bedeutung, denn bei «Care»-Aufgaben handelt es sich tatsächlich um Arbeit. Die Betroffenen wachsen dabei mit zunehmender Abhängigkeit der betagten Angehörigen langsam in eine zweite Arbeit hinein, die manchmal zu einem eigentlichen zweiten Beruf wird.
Personen in den 50ern, die gerade erst den Kampf um die Vereinbarkeit von Beruf und Kleinkindern ausgefochten haben, finden sich plötzlich in einer Situation wieder, in der familiäre und berufliche Pflichten erneut nur schwer zu vereinbaren sind. Trotz vieler Betroffener ist diese Problematik fast ein Tabuthema. Gemäss einer Studie der Spitex erledigen Frauen zwei Drittel dieser Aufgaben (mit beträchtlichen regionalen Unterschieden), Männer sind aber ebenfalls präsent: Als Söhne oder Ehemänner kümmern sie sich um ihre Partnerin oder Eltern. Der Zeitaufwand ist dabei erheblich: Durchschnittlich leisten die betroffenen Söhne und Töchter 26 Stunden Betreuung pro Woche, Partnerinnen und Partner sogar 60 Stunden.
Das Projekt wird finanziell vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann unterstützt, denn es soll ein besseres Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern schaffen.
Was ist «Care»-Arbeit?
Was umfasst überhaupt der Begriff «Care»? Entstanden ist der Begriff in der amerikanischen Frauenbewegung der 70er-Jahre als Gegenpol zu einem rationalen Gerechtigkeitskonzept, bei dem das Einzelkämpfertum und als vorwiegend männlich geltender Wert im Vordergrund stand. Anführerin der Bewegung war die amerikanische Psychologin und Philosophin Carol Gilligan. «Care» beinhaltet demnach eine Wahrnehmungsebene (achten auf andere, sich sorgen um andere) und eine Handlungsebene (sich kümmern um andere, pflegen). Das Herzstück des «Care»-Begriffs bilden Verantwortungsbewusstsein, Engagement, Aufmerksamkeit, Beziehungen und vor allem die Einsicht, dass alle Menschen verletzlich sind. «Care» umfasst somit Dimensionen wie Achtsamkeit, Sorge, Rücksichtnahme und gegenseitige Hilfe.
In der Schweiz definiert das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann «Care»Arbeit als «Betreuungs, Sorge- und Pflegeaufgaben für Kinder sowie für pflege- und betreuungsbedürftige Erwachsene» . Das Büro betont, dass diese Arbeit eine gesellschaftliche Notwendigkeit sei und auf möglichst viele Personen – Männer und Frauen – verteilt werden müsse, damit sie auch in Zukunft erbracht werden kann, was sich sowohl die Gepflegten als auch die Pflegenden wünschen.
Das im Juni von Travail.Suisse lancierte Projekt bezweckt eine bessere Vereinbarkeit regelmässiger Erwerbsarbeit ausserhalb des eigenen Haushalts mit «care»-Arbeit für betagte Angehörige. Es soll insbesondere Fragen von Arbeitnehmenden beantworten, sobald diese auftauchen. Die Thematik ist bewusst auf dieses Gebiet eingegrenzt. Spezifische Aspekte im Zusammenhang mit Behinderungen oder medizinischen Diagnosen bei Kindern und Erwachsenen, die besondere Betreuung und Pflege benötigen, wurden nicht berücksichtigt. Das Projekt von Travail.Suisse setzt somit ganz am Anfang der Problematik an, um die Vereinbarkeit zu fördern.
Travail.Suisse schafft eine Erstanlaufstelle
Wenn erste Fragen zur Vereinbarkeit von Erwerbs- und Betreuungsarbeit auftauchen, ist es wichtig, dass sich betroffene Arbeitnehmende an eine zentrale, gesamtschweizerische «Erstanlaufstelle» wenden können. Das von Travail.Suisse lancierte Projekt will eine Internetseite zur Verfügung stellen, die Erwerbstätigen, die auch Care-Arbeit verrichten, nützliche Informationen bietet.
Ein wesentlicher Teil der künftigen Website dient auch der Sensibilisierung. Leisten Personen «Care-Arbeit», wenn sie kleinere Besorgungen erledigen? Sie also beispielsweise der Mutter mit der Steuererklärung helfen, regelmässig für den Vater einkaufen (und gleich noch den Zustand der Lebensmittel im Kühlschrank kontrollieren) oder die Schwiegermutter zum Coiffeur oder Arzt begleiten? Die Antwort lautet: Ja. Soll man sich Gedanken über die «Care-Arbeit» machen, die der Vater für die Mutter leistet oder umgekehrt? Auch diese Frage ist mit Ja zu beantworten.
Und wann sollen Betroffene das Thema an ihrem Arbeitsplatz zur Sprache bringen? Heute ist bekannt, dass Erwerbstätige kaum darüber sprechen, welche Verpflichtungen sie diesbezüglich im Privatleben haben. Meistens thematisieren sie das Thema viel zu spät, nämlich wenn sie nicht mehr in der Lage sind, die Situation allein zu bewältigen. Häufig unterstützen pflegende Angehörige ihre Eltern so stark, dass sie die körperlichen, aber auch die psychischen Grenzen ihrer Belastbarkeit überschreiten. Dann besteht die Gefahr, dass sie selber krank werden. Die neue Internetseite muss ein Bewusstsein für die Probleme schaffen, die in Zukunft unweigerlich auftauchen werden, wenn Betroffene einfach alles für sich behalten.
Begüterte Familien lösen das Problem manchmal, indem sie Personen aus dem Ausland anstellen, welche die «Care»-Arbeit bei Pflegebedürftigen zu Hause übernehmen. In diesem Fall wäre es wichtig, über gute Praktiken zu informieren, damit die häufig mittellosen ausländischen Arbeitskräfte nicht ausgebeutet werden.
Zur Förderung der «Care»-Arbeit braucht es also Informationen über die gesetzlichen Rechte und Pflichten der Erwerbstätigen sowie über Lösungsansätze, die am Arbeitsplatz für eine bessere Vereinbarkeit vorgeschlagen werden können. Ergänzt wird die Internetseite durch Informationen über finanzielle Unterstützung sowie technische Lösungen für eine Betreuung «aus der Ferne» (Long Distance Care Giving). Sinnvoll wäre zudem eine Datenbank mit kantonalen und/oder regionalen Adressen für die Nutzer/innen der künftigen Website. Nicht in Form einer endlosen Liste, sondern mit sorgfältig ausgewählten Tipps als nützliche Orientierungshilfe im Labyrinth der «Care»-Welt.
Begleitung durch Fachleute
Zur Begleitung des Projekts wurden mehrere Arbeitsgruppen gebildet, denen anerkannte Fachleute aus verschiedenen «Care»-Bereichen angehören (Privatsektor, Verbände, Hochschulen). Vertreter/innen der grossen Mitgliedsverbände von Travail.Suisse (Syna, OCST, transfair) haben die Aufgabe, die Anliegen ihrer Mitglieder weiterzuleiten. Diese werden ihrerseits die neue Plattform testen, sobald sie verfügbar ist, d.h. in rund zwei Jahren. Die offizielle Lancierung des neuen Dienstleistungsangebots von Travail.Suisse ist für Herbst 2016 vorgesehen. Travail.Suisse hat in den vergangenen Jahren rechtliche Informationen rund um das Thema Erwerbstätigkeit und Mutterschaft auf Papier und im Internet bereitgestellt (www.infomutterschaft.ch) und ein gezieltes Hilfsmittel zur Organisation von Schwangerschaft und Wiedereinstieg nach einer Geburt ausgearbeitet (www.mamagenda.ch). Nun stehen die Bedürfnissen der älteren Arbeitnehmenden auf der Agenda, die vor der Herausforderung stehen, Berufstätigkeit und die Betreuung von Angehörigen unter einen Hut zu bringen.