Eine zeitgemässe Familienpolitik muss die Massnahmen und Instrumente bereitstellen, die die Lebensqualität der Familien in ihren heutigen Lebensumständen verbessern. Dabei muss die Familienpolitik für Travail.Suisse die Frage beantworten, wie die Gesellschaft das Wohl der Familien stützen muss, damit die Familien ihrerseits zum Wohl der Gesellschaft beitragen können. Gerade in Bezug auf die Familienfinanzen zeigt eine Studie im Auftrag von Travail.Suisse, dass den Familien mit Kinderzulagen mehr gedient ist als mit Steuerabzügen. Deshalb ist für Travail.Suisse ein Nein zur SVP-Familieninitiative der erste Schritt zu einer zeitgemässen Familienpolitik.
Am 3. März 2013 ist der Familienartikel an der Urne gescheitert. Die ungewöhnliche und äussert seltene Kombination eines Ja des Volkes und dem Nein der Stände hat zu einer gewissen familienpolitischen Ratlosigkeit geführt. Am 24. November findet bereits die nächste familienpolitische Abstimmung statt – diesmal über die sogenannte Familieninitiative der SVP.
Travail.Suisse hat diese Ausgangslage zum Anlass genommen, in einem Positionspapier die eigenen Vorstellungen einer zeitgemässen Familienpolitik zu formulieren. Zudem haben wir eine Studie zur Entwicklung der Familienfinanzen der letzten rund 15 Jahre und zur Wirkung von familienpolitischen Massnahmen in Auftrag gegeben.
Zeitgemässe Familienpolitik muss heutige Familienrealität beachten
Eine Familienpolitik ist dann zeitgemäss, wenn sie die Realität der heutigen Familien beachtet. Sie muss Massnahmen und Instrumente bereitstellen, die die Lebensqualität der Familien in ihren heutigen Lebensumständen verbessern. Eine zeitgemässe Familienpolitik muss also folgenden Umständen Rechnung tragen:
• Junge Frauen haben gute Ausbildung: Heute sind junge Frauen gleich gut oder besser gebildet als junge Männer. Bereits mehr als die Hälfte der Studierenden an den Schweizer Universitäten ist weiblich. Mit der besseren Ausbildung steigen auch der Wunsch und die Chance, in einem guten Job erwerbstätig zu sein und es als Mutter zu bleiben.
• Das Alleinernährermodell hat abgedankt: Der Vollzeit arbeitende Vater und die Teilzeit arbeitende Mutter ist heute das Standardmodell der Familien in der Schweiz. Geteilte Verantwortung und ein Beitrag von Mutter und Vater zur Finanzierung der Familie und Erziehung der Kinder ist Normalität.
• Kinder sind ein finanzielles Risiko: Trotz Erwerbsarbeit von Vater und Mutter haben Familien deutlich weniger Geld zur Verfügung als kinderlose Haushalte. Das liegt sowohl am tieferen Beschäftigungsgrad als auch an hohen Kinderkosten. Ab drei Kindern steigt sogar das Armutsrisiko drastisch.
• Unklare Grenze zwischen Arbeit und Familienleben: Die Flexibilisierung der Arbeitszeit und der Einsatz neuer Kommunikationstechnologien ist für viele Väter und Mütter ein Segen. Gleichzeitig steigt die Erwartung an Erreichbarkeit und die Beanspruchung in der „Freizeit“. Der Schutz der Familienzeit ist schwieriger geworden.
• Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung und Pflege der eigenen Eltern als neue Herausforderung: Immer häufiger sind Väter und Mütter von schulpflichtigen Kindern damit konfrontiert, dass ihre eigenen Eltern Betreuung oder sogar Pflege bedürfen. Das bisherige Modell, dass die Töchter diese Aufgabe übernehmen, nachdem die Kinder flügge geworden sind, wird sowohl durch die spätere Elternschaft als auch durch die verbreitete Erwerbstätigkeit der Frauen in Frage gestellt.
Diese Fakten machen klar, dass eine zeitgemässe Familienpolitik nicht an einem einzelnen Punkt ansetzen kann. Um erfolgreich zu sein, braucht es einen Mix von Massnahmen und Instrumenten, die eine hohe Lebensqualität für alle Familien sicherstellen.
Familie und Gesellschaft sind aufeinander angewiesen
Eine zeitgemässe Familienpolitik dreht sich aber nicht alleine um die Familien. Denn Familie und Gesellschaft sind gegenseitig aufeinander angewiesen. Eine zeitgemässe Familienpolitik muss deshalb auch Antworten geben auf die Fragen, wie die Gesellschaft das Wohl der Familien stützen soll und kann und welche Voraussetzungen die Familien brauchen, um ihrerseits zum Wohl der Gesellschaft beizutragen.
Aus Sicht der Familien sind für Travail.Suisse die Lebensqualität und Wahlfreiheit zentral. Jede Familie soll so leben können, wie sie es für richtig hält und unabhängig von der Wahl des Familienmodells über genügend finanzielle Ressourcen verfügen. Damit wird auch sichergestellt, dass die Kinder eine möglichst unbeschwerte und glückliche Kindheit verbringen können. Untersuchungen zeigen jedoch, dass sich Eltern mehr Kinder wünschen, als sie wirklich bekommen und dass sie auch ihre Erwerbstätigkeit lieber anders organisieren würden, als es die Umstände ermöglichen. Handlungsbedarf ist also gegeben.
Die Gesellschaft hat ihrerseits ein Interesse am Wohlergehen der Familien, der Zahl der geborenen Kinder und der Beteiligung der Eltern am Erwerbsleben. In der Familie erfolgen wichtige Weichenstellungen für das ganze Leben der Kinder. Ihr Wohlergehen ist damit gesellschaftlich zentral. Die Zahl der geborenen Kinder und die Erwerbsbeteiligung der Eltern sind vor allem aufgrund der demografischen Entwicklung wichtig. Der Fachkräftemangel bedroht nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz, sondern auch die Lebensqualität. Eine höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen ist sicher Teil einer guten Lösung. Sie darf aber nicht zu einem Rückgang der Kinderzahl führen – sonst wird das Problem nur verschoben anstatt behoben.
Für Travail.Suisse liegt der Schlüssel zu einer zeitgemässen Familienpolitik in einer hohen Vereinbarkeit von Familie und Beruf und in einer angemessenen finanziellen Unterstützung der Familien. Nur mit genügend Zeit und Geld für alle Familien können das Wohl der einzelnen Familien und die Interessen der ganzen Gesellschaft gefördert werden.
Familienzulagen für alle Familien statt Steuergeschenke für Wohlhabende
In Bezug auf die finanzielle Unterstützung der Familien hat Travail.Suisse eine Studie anfertigen lassen. Sie zeigt, dass die verfügbaren Einkommen der Familien in den letzten rund 15 Jahren leicht zugenommen haben. Dies dürfte auch mit der Einführung des neuen Familienzulagengesetzes zu tun haben, das auf eine Volksinitiative von Travail.Suisse (Für faire Kinderzulagen) zurückgeht. Diese Vereinheitlichung und Erhöhung der Kinderzulagen war also sicher richtig und wichtig, denn dank diesem Gesetz fliessen seit 2009 pro Jahr 500 Mio. Franken mehr in die Familienkassen.
Die Studie zeigt aber ebenfalls, dass die Einkommen der Familien mit tieferen und mittleren Einkommen deutlich weniger zugelegt haben als diejenigen der Familien mit höheren Einkommen. Zudem ist die Differenz zu den kinderlosen Haushalten bei Familien mit tieferen und mittleren Einkommen grösser geworden, während dem sie bei den Familien mit höhere Einkommen stabil geblieben ist. Diese Entwicklung kann als Folge der steuerlichen Entlastungen der letzten Jahre angesehen werden, die alle zugunsten der Familien mit höheren Einkommen ausgefallen sind.
Eine zeitgemässe Familienpolitik darf also nicht Familien mit hohen Einkommen weiter finanziell entlasten, sondern Familien mit tieferen und mittleren Einkommen gezielt finanziell unterstützen. Dazu sind Kinder- und Ausbildungszulagen das beste Instrument. Sie haben den grössten Effekt auf das verfügbare Einkommen von Familien mit tieferen und mittleren Einkommen und sie reduzieren deren Benachteiligung gegenüber kinderlosen Haushalten am stärksten.
Aufgrund dieser Studienergebnisse lehnt Travail.Suisse die Familieninitiative der SVP ab und fordert, dass stattdessen die Kinder- und Ausbildungszulagen erhöht werden. Die in der SVP-Initiative vorgesehen Steuerabzüge entlasten erneut Familien mit hohen Einkommen am stärksten und setzen damit am falschen Ort an. Mit gleich viel Geld lässt sich via Kinderzulagen den Familien gezielter helfen. Der erste Schritt zu einer zeitgemässen Familienpolitik besteht deshalb in einem Nein zur Familieninitiative am 24. November.