Im Rahmen der letzten Reform der Arbeitslosenversicherung im Jahr 2011 wurden ihre Leistungen stark gekürzt. Besonders betroffen sind jugendliche Stellensuchende, was zu einer Zunahme der Aussteuerungen geführt hat. Weiter bringt der stärkere Fokus auf Sanktionierungen eine Zunahme von instabilen Beschäftigungsverhältnissen. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, fordert deshalb eine genauere Analyse der Auswirkungen der letzten AVIG-Reform.
Im Nachgang der Finanzkrise von 2008 ist die Arbeitslosenversicherung in finanzielle Schieflage geraten und hat 2010 mit einem Schuldenstand von über 7 Mrd. Franken die gesetzlich vorgesehen Schuldenobergrenze überschritten. Damit wurde eine Revision notwendig.
Besonders ins Visier geriet – nebst der Erhöhung des Beitragssatzes und dem zusätzlichen Solidaritätsbeitrag für Gutverdienende – die Ausgabenseite, konkret die Dauer des Bezugsanspruchs für Taggelder. Betroffen vom Leistungsabbau in der Arbeitslosenversicherung waren vor allem jüngere Stellensuchende (unter 25-jährig). Ihnen wurde die Bezugsdauer für Taggelder von 18 Monaten auf 9 Monate halbiert und für Stellensuchende direkt nach der Ausbildung von 12 Monaten auf 4 Monate reduziert. Weiter wurden die Ausnahmen von der Wartefrist nach Ausbildungsabschluss aufgehoben, so dass sämtliche jüngeren Stellensuchende nach dem Abschluss einer Ausbildung eine Frist von 120 Tagen abzuwarten haben, bevor das erste Taggeld ausbezahlt wird.
Gleichzeitig mit der Revision wurde auch die Sanktionspraxis bezüglich den Arbeitsbemühungen verschärft. Um die Suchbemühungen der Arbeitslosen zu überprüfen, muss die individuelle vereinbarte Anzahl Bewerbungen pro Monat im Protokoll der Arbeitsbemühungen (PAB) dokumentiert und bis spätestens am 5. Tag des Folgemonats der zuständigen Amtsstelle vorgelegt werden. Zur Durchsetzung dieser Regelung können bei Verstössen Sanktionen von in der Regel 5-10 Taggeldern verhängt werden. Während vor der Revision den Stellensuchenden jeweils noch eine Nachfrist gesetzt wurde, bevor es Sanktionen kam, werden seit April 2011 bei nicht fristgerechter Einreichung des PAB direkt Sanktionen verhängt.
Eine neue Studie des IZA Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit untersucht die Auswirkungen der letzten AVIG-Revision von 2011 und fokussiert auf die Fragestellungen, wie sich die Reduktion der Dauer des Taggeld-Anspruches auf die jüngeren Stellensuchenden auswirkt und welche Effekte die Verschärfung der Sanktionspraxis bezüglich Arbeitsbemühungen hat.
Mehr Aussteuerungen – schlechter bezahlte und deutlich unsicherere Arbeitsstellen
Ein erstes Ergebnis der Studie ist, dass die Reform die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit im ersten Jahr nach dem Arbeitsplatzverlust um etwa 10 Tage gesenkt hat. Nicht zuletzt daraus resultieren die Minderausgaben bei der Arbeitslosenversicherung, welche die finanzielle Situation wieder ins Lot bringen sollen. Wichtig ist aber die Erkenntnis, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Abmeldung aus dem ALV-System innerhalb eine Jahres um 35% gestiegen ist. Gleichzeitig kommt ein Abgang mit einer neuen Stelle gleich wahrscheinlich vor wie vor der Revision. Auch wenn gerade bei jüngeren Menschen verschiedene Gründe für einen Austritt aus der Arbeitslosenversicherung denkbar sind (Rückkehr ins Elternhaus, Migration, Weiterbildung), kommen die Autoren zum Schluss, dass die 4. AVIG-Revision das Aussteuerungsrisiko massgeblich erhöht hat.
Dass die Aussteuerungen bei Stellensuchenden bis 25-jährig seit der Revision deutlich zugenommen haben bestätigt ein Blick in die Arbeitsmarktstatistik des Bundes.
Grafik 1: Entwicklung der Anzahl Aussteuerungen seit 2007
Quelle: Amstat; eigene Darstellung
Während sich die Gesamtheit der Aussteuerungen über die letzten 10 Jahre kontinuierlich von über 25‘000 auf rund 20‘000 Personen verringert hat, ist bei der Kategorie der 15- bis 24-jährigen eine deutliche Zunahme sichtbar. Wurden vor der Revision jährlich rund 2000 junge Stellensuchende ausgesteuert, hat sich diese Zahl mit der Revision in den letzten beiden Jahren mit fast 5000 Personen mehr als verdoppelt (vgl. Grafik 1).
Ein zweites Ergebnis betrifft den Einkommenseffekt. So weist die Studie nach, dass die Revision zumindest kurzfristig einen negativen Effekt auf die Lohnhöhe der neu gefundenen Arbeitsstelle hat. Der Druck durch die verkürzten Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung führt so dazu, dass die betroffenen Stellensuchenden deutlich schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen als vor der Revision. Das Ausmass des Effektes variiert je nach demographischen Merkmalen, zeigt sich aber bei ungelernten Männern mit bis zu 8 Prozent am deutlichsten. Keine Aussage kann die Studie darüber machen, ob sich dieser Effekt wieder glättet oder nachhaltig die weitere Berufslaufbahn prägt.
Ein drittes Ergebnis ergibt sich aus der Untersuchung des geänderten Sanktionierungsregimes bei verspätet eingereichten PAB’s. Wenig überraschend hat der Wegfall der Nachfrist dazu geführt, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer Sanktionierung für die Stellensuchenden erhöht hat. Diese striktere Sanktionierungspraxis erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass eine stellensuchende Person selbst eine Stelle findet. Diese positive Wirkung muss allerdings mit Blick auf die Qualität der Arbeitsstelle relativiert werden. So weisen die Autoren nach, dass es sich bei den schneller gefundenen allein um instabile Stellen handelt, die zu einer baldigen Rückkehr in die Arbeitslosigkeit führen. So ist die Wahrscheinlichkeit um 6 Prozentpunkte gesunken, dass sanktionierte Stellensuchende auch nach eineinhalb Jahren noch eine Stelle haben.
Weitere Analysen und allenfalls Korrekturen der letzten Revision sind notwendig
Die Revision der Arbeitslosenversicherung wurde nötig, weil im Nachgang der Finanz- und Wirtschaftskrise die Arbeitslosenzahlen deutlich stiegen und der Fonds der Arbeitslosenversicherung einen Schuldenstand von über 7 Mrd. Franken erreicht hatte. Die finanzielle Konsolidierung war erfolgreich und Ende 2015 lag der Schuldenstand noch bei rund 2.5 Mrd. Franken. Rund 6 Jahre nach erfolgtem Inkrafttreten der Revision scheint eine Analyse der Effekte angezeigt. So ist für Travail.Suisse insbesondere die Zunahme der Aussteuerungen von Jugendlichen aus der Arbeitslosenversicherung problematisch. Auch wenn der weitere Karriereverlauf dieser vermehrt ausgesteuerten Personen unklar ist, kann davon ausgegangen werden, dass der Weg zurück in den Arbeitsmarkt nicht oder nur mit sehr grossen Anstrengungen möglich ist. Somit dürften sich hinter dieser Zahl nicht nur problematische Einzelschicksale, sondern in Zeiten des Fachkräftemangels auch ein gesamtwirtschaftliches Problem verstecken. Weiter zeigt sich, dass mit der Revision der Fokus zu stark auf Quantität statt Qualität gesetzt wurde. Die Anreize zu möglichst schneller Wiederbeschäftigung auf Kosten von tieferen Verdiensten und prekären Beschäftigungen, die rasch wieder in eine Arbeitslosigkeit führen, ist zumindest kritisch zu hinterfragen.
Travail.Suisse unterstützt die Erarbeitung eines Berichtes über die Auswirkungen der 4. Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes, wie es ein Postulat von Nationalrat Marco Romano (16.4038) fordert und ist enttäuscht über die ablehnende Haltung des Bundesrates.