Wachsende Vermögen verlangen nach einem Umdenken – vier Türen zu einer sozialen Zusatz-Finanzierung der AHV
Die Vermögensverteilung in der Schweiz befindet sich in einer Schieflage. Zwei Faktoren haben diese Schieflage in den vergangenen Jahren noch verschärft, die aktuelle Geldpolitik und die demographische Alterung. Beide Effekte sprechen dafür, Vermögen zur Finanzierung der AHV stärker zu besteuern. Löhne und Konsum können dadurch entlastet werden. Die alleinige zusätzliche Finanzierung der AHV durch eine höhere Mehrwertsteuer muss hingegen dringend überprüft werden.
Die Vermögen in der Schweiz sind in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Dies zeigen mehrere Publikationen (1). Die ungleiche Verteilung der Vermögen hat als Folge davon ebenfalls zugenommen. Dies ist naheliegend, da die Vermögenspreise stetig gestiegen sind und die Vermögenswerte ungleich verteilt sind. Die Zunahme der Vermögensungleichheit lässt sich auch statistisch erhärten. Die eidgenössische Steuerverwaltung zeigt dies in ihrer Publikation für die Jahre 2003 bis 2015 eindrücklich. Mit einem Gini-Index von 0.83 war die Ungleichheit zwar schon vor 20 Jahren nahe am Wert von 1. Dieser Wert von 1 wird erreicht, wenn eine einzige Person das gesamte Vermögen besitzt und alle anderen kein Vermögen haben. Ein Wert von 0 würde hingegen einer vollständigen Gleichverteilung entsprechen. Seit 2003 ist der Gini-Index allerdings fast jährlich weiter angestiegen, im Jahr 2015 lag er bei einem Wert von 0.86. In den letzten fünf Jahren dürfte sich diese Entwicklung zudem weiter fortgesetzt haben.
Die Zentralbanken verteilen Geschenke
Ein zentraler Grund dafür, weshalb die Vermögenspreise stetig wachsen und die Vermögensungleichheit zunimmt, sind die weltweiten Interventionen der Zentralbanken. Die Zentralbanken vollziehen dabei etwas sehr Simples, sie schaffen neues Geld. Mit einer Buchung schreiben sie sich selbst Geld gut, mit welchem sie anschliessend Aktien und Obligationen kaufen. Dadurch steigen zuerst die Preise für Wertpapiere an. Anschliessend übertragen sich die höheren Preise auch auf die Immobilienmärkte. Das neu geschaffene Geld führt somit zu deutlich höheren Preisen auf den Vermögensmärkten und dadurch zu höheren Vermögen. Die Zentralbanken verteilen somit ihr Geld hauptsächlich an Personen, welche Vermögenswerte wie Aktien oder Immobilien besitzen. Sie tun dies in bester Absicht zur Stabilisierung der Konjunktur und weil ihnen aufgrund der lange andauernden Passivität der Finanzpolitik keine andere Wahl blieb. Die Tatsache, dass sie dadurch die Vermögensungleichheit verstärken, ist wenig bestritten und entspricht einem in Kauf genommenen Kollateralschaden. Tatsächlich liegen die Zentralbanken mit Blick auf die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nicht falsch. Wenn es auf diese Weise gelingt, die Beschäftigung zu stabilisieren und Arbeitslosigkeit zu verhindern, haben sie gute Argumente auf ihrer Seite. Trotzdem bleibt es eine Tatsache: die Zentralbanken verteilen mit ihrer Politik Geld an Vermögende, wodurch diese noch vermögender werden und die Ungleichheit steigt. Dieser Tatsache gilt es in die Augen zu sehen und entsprechende finanzpolitische Konsequenzen zu ziehen.
Die Mehrwertsteuer belastet tiefe und mittlere Einkommen
Die Zusatzfinanzierung für die AHV, welche aufgrund der demographischen Alterung wichtig ist, soll gemäss Bundesrat und Parlament im Rahmen der Reform AHV 21 ausschliesslich über eine höhere Mehrwertsteuer erfolgen. Travail.Suisse unterstützt eine leichte Erhöhung aus pragmatischen Gründen. Ein Vorteil der Mehrwertsteuer ist es, dass auch Personen, welche sich bereits im Rentenalter befinden, Beiträge an die AHV leisten. Dadurch wird der zusätzliche Finanzierungsbedarf nicht ausschliesslich von den Arbeitnehmenden finanziert. Der Nachteil der Mehrwertsteuer ist aber ebenso klar. Personen mit tiefen und mittleren Einkommen zahlen im Verhältnis zu ihrem Einkommen deutlich mehr als Personen mit hohen Einkommen. Um dies intuitiv zu verstehen, braucht es keine ausführliche Studie zur Steuerinzidenz, es reicht, die Haushaltsbudgeterhebung des Bundesamts für Statistik. Diese zeigt, dass Haushalte mit tiefen Einkommen fast ihr gesamtes Einkommen, und Haushalte des unteren Mittelstands etwa zwei Drittel ihres Einkommens, für Konsumausgaben verwenden. Zum Sparen bleibt bei beiden nichts übrig. Haushalte mit hohen Einkommen hingegen geben lediglich 40% ihres Einkommens für Konsumgüter aus. Ausgaben für Versicherungen, den Verkauf von Liegenschaften oder für Käufe und Verkäufe von Wertpapieren auf den Finanzmärkten sind hingegen von der Mehrwertsteuer ausgenommen. Dadurch sind wesentliche Teile der Ausgaben von Haushalten mit hohem Einkommen von der Mehrwertsteuer befreit. Entsprechend bezahlen Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen proportional zu ihrem Einkommen deutlich mehr an die AHV aus der Mehrwertsteuer als Personen mit hohen Einkommen. Wird die Zusatzfinanzierung der AHV ausschliesslich über die Mehrwertsteuer getätigt, werden die Entwicklungen der letzten Jahre auf den Finanzmärkten schlichtweg ignoriert. Das ist nicht zu rechtfertigen. Es braucht deshalb dringend neue Wege, unter anderem bei der Zusatz-Finanzierung der AHV. Vier Türen stehen dafür offen.
Türe 1: Erträge der Nationalbank in die AHV
Türe 1 ist wohlbekannt; die Schweizerische Nationalbank schafft neues Geld, kauft damit Aktien und Obligationen und ein Teil dieser Erträge wird an die AHV weitergeleitet. Dabei können die Erträge aus diesen Finanzmarktinvestitionen an einen Fond überführt werden, wodurch Schwankungen ausgeglichen werden können. Das Vorgehen ist einfach, praktikabel und volkswirtschaftlich sinnvoll, weil der realwirtschaftlichen Aktivität keine Mittel entzogen werden. Die Dividenden und Zinsen werden ganz einfach für die Finanzierung von Renten verwendet, Löhne und Konsum können entsprechend entlastet werden. Werden die Erträge der Zentralbank hingegen nicht verwendet, so verbleiben sie bei der Nationalbank und haben keine realwirtschaftliche Aktivität zur Folge. Dies zum Schaden der Volkswirtschaft.
Türe 2: Finanzmärkte besteuern
Das Postulat Rieder (21.3440) fordert die Prüfung einer Besteuerung der Finanzmärkte. Der Ansatz ist mit Blick auf die vorhergehende Analyse ebenso richtig. Die Zentralbanken schaffen neues Geld, welches auf die Finanzmärkte fliesst. Besitzer und Händler von Wertpapieren und Obligationen erzielen durch die steigenden Vermögenspreise Gratis-Gewinne mit dem neuen Geld. Eine Finanzmarkttransaktionssteuer schöpft einen Teil dieser Gratis-Gewinne ab und finanziert dadurch ein Sozialwerk, welches der gesamten Bevölkerung zugutekommt. Die Besteuerung der Finanzmärkte ist ein richtiges Instrument, zur richtigen Zeit, allerdings dürfte der geforderte Bericht bis zu seiner Publikation eine Weile in Anspruch nehmen, ganz zu schweigen von einer allfälligen Umsetzung.
Türe 3: Erbschaften besteuern
Die Verteilung der Vermögen hat auch zwischen den Generationen an Schieflage gewonnen. Die höhere Lebensdauer führt dazu, dass Erbschaften hauptsächlich an Rentnerinnen und Rentner respektive an Personen, welche kurz vor dem Renteneintritt stehen, vererbt werden (2). Eine Erbschaftssteuer würde deshalb einerseits die Vermögen allgemein höher besteuern und dabei einen Teil der Gratis-Gewinne durch die Geldpolitik ausgleichen. Andererseits würde sie auch die Generationengerechtigkeit erhöhen. Die finanziellen Herausforderungen durch den demographischen Wandel würden dadurch nicht nur den jüngeren Personen aufgebürdet, sondern vermehrt auch den vermögenden älteren Personen. Auch die Einführung einer Erbschaftssteuer würde viel Zeit in Anspruch nehmen und den Druck auf die Leistungen der AHV hochhalten. Das ist aber vermutlich das einzige Argument, welches gegen eine Einführung spricht.
Türe 4: Bewährtes im neuen Kleid
Bereits heute wird bei Nichterwerbspersonen bei der Berechnung der AHV das Vermögen mitberücksichtigt (3). Eine nicht erwerbstätige Person mit einem Vermögen von einer Million Schweizer Franken bezahlt dadurch beispielsweise etwa 2000 Franken in die AHV ein. Personen mit einem höheren Vermögen entsprechend mehr. Es spricht nichts dagegen, Vermögen auch bei Erwerbstätigen bei der Berechnung der AHV Beiträge zu berücksichtigen. Neben den Lohnbeiträgen würden Personen mit einem hohen Vermögen somit Ende Jahr eine Rechnung von der Ausgleichsstelle erhalten, über welche sie einen Beitrag auf dem Vermögen an die AHV entrichten würde. Das System ist im Grundsatz bereits etabliert und müsste lediglich auf die Erwerbstätigen ausgedehnt werden. Der Vorteil ist klar: diese Türe kann relativ rasch geöffnet werden. Die politischen Abwehrreflexe dürften zudem geringer ausfallen, da die Massnahme weniger stark ideologisch belastet ist.
Diese vier offenen Türen zeigen, dass eine soziale Finanzierung der heutigen Leistungen der AHV über eine stärkere Besteuerung der Vermögen möglich und richtig ist. Zu manchen Türen führt ein langer Gang, andere können rasch geöffnet werden. Klar ist, die Behauptung, es gäbe überhaupt keine Türen und keinen Weg für eine soziale Zusatz-Finanzierung der heutigen Leistungen der AHV ist falsch. Gefragt ist allein der politische Wille dazu, wenigstens eine dieser Türen zu öffnen.
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(1): Eidgenössische Steuerverwaltung (2019): «L’évolution de la richesse en Suisse de 2003 à 2015» oder Schweizerische Nationalbank (2021): «Vermögen der privaten Haushalte in der Schweiz: Konzepte und Entwicklung im internationalen Vergleich» abrufbar hier
(2): Brülhart M. (2019): „Erbschaften in der Schweiz: Entwicklung seit 1911 und Bedeutung für die Steuern“, Social Change in Switzerland, Nr. 20, Lausanne
(3): Quelle