Die Schweizer Stimmbevölkerung hat am 24. September die Altersvorsorge 2020 und die Mehrwertsteuererhöhung zu Gunsten der AHV abgelehnt. Travail.Suisse bedauert dies sehr. Als unabhängiger Dachverband der Arbeitnehmenden hat Travail.Suisse diese Kompromissvariante unterstützt, um die Verantwortung als Sozialpartner gegenüber der ersten und zweiten Säule wahrzunehmen. Das Nein zur Vorlage darf aber keinesfalls als Ja zu Rentenalter 67 oder zu einer Abbauvorlage interpretiert werden. Bei einer neuen Vorlage muss eine solide Finanzierungslösung im Zentrum stehen.
Die Reform der Altersvorsorge 2020 war ein umfassendes Projekt. Nach der Ablehnung muss man wohl sagen: ein zu umfassendes Projekt. Das heisst nicht, dass es zu komplex war oder die Stimmberechtigten es nicht verstanden. Die Altersvorsorge 2020 enthielt viele unterschiedliche Massnahmen – je nach Standpunkt gute und weniger gute. Wer gegen das Reformprojekt war, konnte alle schlechten Punkte auflisten und ein düsteres Bild malen. So haben es insbesondere die Konsumentenzeitschriften gemacht. Auch die Kampagnen des Arbeitgeberverbandes, der SVP und der FDP zielten geschickt auf die umstrittenen Punkte. Leider wurden die Vorteile der Vorlage im jetzigen Umfeld total verkannt.
Sozialpartner tragen Verantwortung
Als Sozialpartner hat Travail.Suisse jedoch eine grosse Verantwortung. Die Stiftungsräte der Pensionskassen müssen zu gleichen Teilen von Arbeitnehmenden- und Arbeitgebendenseite gestellt werden. Auch in den Leitungsgremien auf nationaler Ebene sind die Sozialpartner paritätisch vertreten. Travail.Suisse hat in den zuständigen Kommissionen und Gremien von AHV und BVG Delegierte. Wir haben also eine besondere Verantwortung für die Altersvorsorge gegenüber allen in der Schweiz tätigen Arbeitnehmenden – mehr noch als die Arbeitgeber.
Aus dieser Verantwortung heraus hat Travail.Suisse immer wieder einen gangbaren Kompromiss gesucht. Im Parlament wurde lobbyiert, um eine möglichst gute Lösung zu erhalten. Vorschläge wurden erarbeitet und Parlamentsmitglieder informiert und überzeugt. Hätte Travail.Suisse die Reform der Altersvorsorge selber kreieren können, so hätte sie anders ausgesehen. Im politischen System der Schweiz braucht es aber für jede Lösung zuerst eine Mehrheit im Parlament. Mit dem knappst möglichen Resultat kam schlussendlich die Erhöhung der AHV-Renten für Neurentnerinnen und Neurentner im Nationalrat als Kompensation für den tieferen Umwandlungssatz durch. Das Resultat aus der parlamentarischen Beratung war akzeptabel.
Linkes Nein bedeutet: Keine Rentenaltererhöhung für Frauen und keinen Abbau
Dass die Gewerkschaften mit ihren Dachverbänden mit dem Kompromiss sehr weit gegangen sind, zeigen das „Linke Nein“ und die Nein-Stimmen aus den eigenen Reihen. Wer die Resultate vom 24. September analysiert, darf die These wagen, dass die Mehrwertsteuer-Erhöhung eine Mehrheit in Volk und Ständen gefunden hätte, wenn kein Referendum gegen die AHV-Vorlage ergriffen worden wäre und die Mehrwertsteuer-Erhöhung von ganz Mitte-Links unterstützt worden wäre. Es war ein Penalty gewesen, den man nur noch hätte machen müssen. Es kam anders. Aufgrund des Referendums wurde überproportional viel über die schlechten und sehr wenig über die positiven Punkte der Reform diskutiert.
Klar ist: Am 24. September sagte die Stimmbevölkerung Nein. Doch dieses Nein ist differenziert zu betrachten (in der Romandie waren die Arbeitgeber mehrheitlich für die Reform, dafür war der Nein-Anteil auf der linken Seite grösser etc.). Es gab nicht nur ein Nein von Arbeitgeberorganisationen, SVP und FDP, sondern eben auch das linke Referendum und damit das linke Nein. Damit verlieren die AHV-Abbauer die Deutungshoheit über das Nein. Die Befragungen nach der Abstimmung, einerseits von Tamedia und andererseits der SRG SSR, zeigen die unterschiedlichsten Gründe – die Erhöhung des Frauenrentenalters und die zusätzlichen 70 Franken AHV-Rente sind zwei davon.
Das Nein vom 24. September ändert nichts daran, dass es eine Lösung braucht für die langfristige und sichere Finanzierung der Altersvorsorge. Sowohl Gegner wie Befürworter der Altersvorsorge 2020 waren sich betreffend der Ausgangslage einig: Es bleibt noch etwas Zeit um eine Lösung zu finden, bevor die Defizite bei der AHV zu gross werden. Diese Defizite sollen aber niemanden dazu verleiten, vorschnell einer verkappten Abbauvorlage zuzustimmen. Eine generelle Rentenaltererhöhung und die Senkung des heutigen Rentenniveaus sind tabu. Vielen Pensionierten reicht die Rente nicht zum Leben. Zudem muss die Erhöhung des Frauenrentenalters mit anderen Massnahmen kompensiert werden. Im Parlament wurde beispielsweise ein Zuschlag wegen der Lohndiskriminierung explizit für Frauen oder die Abschaffung des Koordinationsabzugs diskutiert.
Lösung über Babyboomer-Mehrwertsteuer-Prozent
Nimmt man die Arbeitgeber beim Wort und streicht die 70 Franken inkl. höherem Ehepaarplafonds, belässt die 0.3 Lohnprozente und auch das Frauenrentenalter 64 und führt ein Babyboomer-Mehrwertsteuer-Prozent ein, so kann eine neue Vorlage erarbeitet werden mit der die AHV länger als bis 2030 finanziert ist. Mit dem flexiblen Rentenalter, den Massnahmen für ältere Arbeitslose und der Beschränkung der überhöhten Risikoprämien für die Lebensversicherer können zudem einige wesentliche und unbestrittene Punkte in eine neue Vorlage übernommen werden.
Die Lohnprozente für die AHV wurden seit 1975 nie erhöht und die Mehrwertsteuererhöhung wurde nur hauchdünn abgelehnt. Mit der gestiegenen Lebenserwartung lässt sich der Stimmbevölkerung erklären, dass man über leicht höhere Lohnbeiträge und eine höhere Mehrwertsteuer auch etwas mehr zahlen muss, damit man länger Rente erhält und die Finanzen von AHV und Pensionskassen im Lot bleiben. Es kann nicht sein, dass man für die künftigen Generationen die Rentenhöhe senkt und das Rentenalter erhöht, nur weil eine geburtenstarke Generation – die Babyboomer – in Pension geht.
Bundesrat Alain Berset hat alle beteiligten Organisationen Ende Oktober zu einer Aussprache eingeladen. Travail.Suisse wird auch teilnehmen und mithelfen, dass in der notwendigen Zeit den Stimmberechtigten eine neue Vorlage unterbreitet werden kann. Damit sie mehrheitsfähig ist, darf sie keine Abbauvorlage sein – solche wurden 2004 und 2010 vom Volk überdeutlich abgelehnt – und sie muss den Arbeitnehmenden insgesamt Verbesserungen bringen.