Was die Mehrheit des Nationalrats mit unserem Vorsorgesystem vorhat, lässt einen leer schlucken. Eine Bilanz aus Arbeitnehmendensicht.
Nachdem die Botschaft des Bundesrates und die Beratungen im Ständerat von den Bemühungen um einen mehrheitsfähigen Kompromiss geprägt waren, fragt man sich nach den Beratungen im Nationalrat, wie die bürgerliche Mehrheit mit einem fast reinen Abbauprogramm die Bevölkerung überzeugen will.
Giftiger Cocktail
Aus ideologischen Gründen ging offenbar jede Bodenhaftung verloren. Aus einem akzeptablen Gesamtpaket ist ein giftiger Cocktail geworden, welcher für die Arbeitnehmenden sehr gefährlich wirkt. Dieser besteht aus folgenden Zutaten:
In der AHV: Frauenrentenalter 65 ohne Kompensation, automatische Rentenaltererhöhungen auf 67, falls das AHV-Vermögen schmilzt, Kürzung der zusätzlichen Mehrwertsteuerprozente für die AHV, Kürzungen von Witwenrenten und Streichung von Kinderrenten bei gleichzeitigen Privilegien für die Selbständigerwerbenden. In der beruflichen Vorsorge: Senkung des Mindestumwandlungssatzes mit einer sehr teuren Kompensation in der zweiten Säule bei gleichzeitigem Verzicht auf Transparenz und Gewinnbeschränkungen bei den profitorientierten Lebensversicherern.
Unterfinanzierte AHV als Spielball der Politik
Das Resultat dieser Massnahmen wäre eine unterfinanzierte AHV, welche trotz Zusatzbeiträgen, trotz länger arbeitenden Frauen und trotz weiteren Kürzungen früher oder später automatisch Rentenalter 67 einführen müsste. Dies weil mit den beschlossenen zusätzlichen 0.6 Mehrwertsteuerprozentpunkten die Baby-Boomer-Generation nicht finanziert werden kann. Dafür wären 1.5 Mehrwertsteuerprozentpunkte erforderlich. Eine ausgehungerte AHV würde so zum Spielball der bürgerlichen Politik. Auch wenn der Nationalrat den sogenannten Interventionsmechanismus in ein separates Reformpaket umgesiedelt hat, ist das Ziel „Rentenalter 67“ klar ersichtlich. Bezeichnend ist, dass bei schlechten AHV-Finanzen das Rentenalter automatisch angehoben würde. Für den Fall, dass sich die finanzielle Situation danach wieder bessern würde, ist jedoch keine automatische Senkung des Rentenalters vorgesehen. Wie ein Rentenalter 67 mit dem heutigen Umgang der Arbeitswelt mit älteren Arbeitnehmenden in Einklang gebracht werden soll, bleibt das Geheimnis der Volksvertreterinnen und Volksvertreter. Eine im Vorfeld der Reform publizierte Studie zeigt klar auf, dass die Unternehmen die Leute nicht länger beschäftigen wollen. Das scheint den sogenannten Wirtschaftsvertretern und dem Arbeitgeberverband egal zu sein. Anstatt den Tatbeweis zu erbringen und dafür zu sorgen, dass ältere Arbeitnehmende bessere Arbeitsmarktmöglichkeiten haben, wird in ideologischer Verblendung das Rentenalter erhöht. Das bedeutet letztlich Rentenkürzungen für all diejenigen, welche nicht bis 67 ausharren können. Es erstaunt deshalb nicht, dass Rentenalter 67 nicht mehrheitsfähig ist, wie eine Studie der Universität Zürich zeigt.
Verbesserungen für Frauen in AHV unerlässlich
Travail.Suisse zeigte sich beim Rentenalter 65 für Frauen diskussionsbereit. Dies unter der Bedingung, dass gleichzeitig Verbesserungen für Frauen im Vorsorgesystem an die Hand genommen werden. Zum Beispiel der flexible Rentenvorbezug ohne Rentenkürzungen für Arbeitnehmende mit tiefem Einkommen. Davon profitieren würden zu 80 Prozent Frauen. Diese Massnahme wurde gestrichen. Oder ein Ausgleich für die im Erwerbsleben erlittene Lohndiskriminierung. Diese Massnahme wurde vom Nationalrat ebenfalls fallen gelassen. Einzig die Abschaffung des Koordinationsabzugs in der beruflichen Vorsorge würde den vielen Teilzeit arbeitenden Frauen künftig einen höheren versicherten Verdienst bringen. Allerdings haben die Frauen, welche in naher Zukunft ein Jahr länger arbeiten müssen, nichts mehr davon, da sie den Grossteil ihres Alterskapitals bereits angespart haben. Die 50- bis 62-jährigen Frauen, sind damit die Verliererinnen der Reform. Sie werden bestraft, weil sie nebst beruflicher Teilzeitarbeit Familienarbeit geleistet haben.
Massiv mehr in die berufliche Vorsorge einzahlen mit unsicherer Wirkung
Gemäss den Vorstellungen des Nationalrats müsste massiv mehr in die berufliche Vorsorge einbezahlt werden, ohne dass gesichert ist, dass das heutige Rentenniveau für die künftige Rentnergeneration gehalten werden kann. Als Ausgleich zur Senkung des Mindestumwandlungssatzes will die grosse Kammer nämlich den Koordinationsabzug abschaffen und die Altersgutschriften bei jungen Versicherten massiv erhöhen. Zudem sollen für die Übergangsgeneration ab 40 Jahren die Renten zusätzlich über kurzfristig wirksame Kompensationsmassnahmen gesichert werden. Das tönt im ersten Moment gar nicht so schlecht und orientiert sich an Massnahmen, welche bereits der Bundesrat vorgeschlagen hatte. Allerdings hat das Modell verschiedene Haken: Weil die kurzfristigen Kompensationsmassnahmen „dezentral“ vorgenommen werden sollen, bleibt es jeder Pensionskasse selber überlassen, die Renten zu sichern. Das wird verschiedene Kassen vor grosse finanzielle Probleme stellen. Ob unter diesen Voraussetzungen wirklich alle Renten im BVG-Obligatorium gesichert werden können, ist höchst zweifelhaft. Bundesrat und Ständerat hatten eine Ausgleichszahlung über den Sicherheitsfonds vorgeschlagen, welche solidarisch finanziert und einfach durchzuführen ist.
Die Erhöhung der Altersgutschriften ist zudem sehr teuer für die jungen Versicherten. Auch insgesamt ist die vom Nationalrat beschlossene Lösung sehr viel teurer als die vom Ständerat beschlossene Kompensation durch einen AHV-Zuschlag. Auch nicht gerade vertrauenserweckend ist, dass der Vorschlag weder von der Verwaltung noch von der Kommission seriös auf Kosten und Wirkung hin geprüft werden konnte. Auch hier hat die Ideologie über einen pragmatischen Lösungsansatz gesiegt.
Widersprüchliche Entscheide untergraben das Vertrauen
Klar ist, dass der Kuchen der Altersvorsorge nicht grösser wird. Die Bevölkerung wird deshalb verstehen, dass gewisse Opfer zu bringen sind. Zum Beispiel eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Auf kein Verständnis stossen indes widersprüchliche Beschlüsse, wie sie der Nationalrat gefasst hat: So bittet er die Frauen zur Kasse (länger arbeiten oder Rentenkürzungen, Abbau der Witwenrenten), gewährt aber gleichzeitig den Selbständigerwerbenden in der AHV Beitragsprivilegien. So erhöht er das Rentenalter auf 67 Jahre, streicht aber gleichzeitig in der 2. Säule die Zuschüsse an Arbeitgeber, welche viele ältere Arbeitnehmende beschäftigen. So knöpft er einerseits vor allem den Jungen, aber auch allen anderen Beitragszahlern in der beruflichen Vorsorge wesentlich mehr Geld ab, ermöglicht aber gleichzeitig der profitorientierten Versicherungsindustrie weiterhin, völlig überhöhte Risikoprämien einzukassieren und mit einer unfairen Überschussregelung Milliardengewinne auf Kosten der versicherten Arbeitnehmenden zu machen. So kippt er sämtliche Vorschläge des Bundesrats für mehr Transparenz und eine Gewinnbeschränkung bei den Lebensversicherern aus der Vorlage, kümmert sich aber in keiner Weise um die weniger privilegierten Akteure und verwehrt Arbeitslosen die Möglichkeit, ihr Freizügigkeitsguthaben der beruflichen Vorsorge an die Stiftung Auffangeinrichtung zu überweisen und so die Möglichkeit einer Rentenzahlung anstelle einer Kapitalabfindung zu erhalten. Wer hat, dem wird gegeben, scheint die Losung des Nationalrats zu sein.
Ständerat muss korrigieren
Es ist nun am Ständerat, die erwähnten Widersprüche zu beseitigen, Vertrauen zu schaffen und die Reform auf einen Pfad zurück zu einer mehrheitsfähigen Vorlage zu führen. Dazu gehört, dass die Opfer, die zu erbringen sind, gerecht auf alle verteilt und pragmatische Wege beschritten werden. Dazu gehören aber auch der Verzicht auf einen Interventionsmechanismus mit automatischen Rentenaltererhöhungen oder automatischen Rentenkürzungen, eine vernünftige Zusatzfinanzierung für die AHV sowie effiziente Ausgleichsmassnahmen zur Rentensicherung über die AHV.