Was die Sozialkommission des Nationalrates (SGK-N) bei der Altersreform 2020 vorschlägt ist schwer verdaubare Kost für die Arbeitnehmenden: Mehr einzahlen, bis 67 arbeiten und obendrauf noch Rentenkürzungen. Versicherungsgesellschaften sollen sich dagegen weiterhin bei der beruflichen Vorsorge bedienen dürfen. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Vertreter der SVP- dieser Eindruck dürfte nicht täuschen: Sie verschlechtern zuerst das Reformpaket und ziehen sich dann aus der Verantwortung indem sie sich in der Schlussabstimmung enthalten – dabei politisieren sie meilenweit an ihrer Basis vorbei. Wie die Classe Politique eben.
Bei der Reform der Altersvorsorge 2020 spielt die SVP mit falschen Karten. Erst verschlechtern die zahlenmässig dominierenden SVP-Vertreter das Paket in der Kommission systematisch und massiv, danach enthalten sie sich gemäss Medienberichten in der Schlussabstimmung. Sie wollen sich damit aus der Verantwortung für den Kahlschlag bei AHV und BVG ziehen, den sie angerichtet haben. Denn sie wissen, dass sie weit an ihrer Basis und am Volk vorbei politisieren. Die SVP verkörpert also selber die von ihr kritisierte Classe Politique, welche angeblich in Hinterzimmern am Volk vorbei politisiert. Solch politische Verantwortungslosigkeit muss aufhören.
Die Vorschläge der Sozialkommission des Nationalrates sind bereits breit diskutiert worden. Gemäss Kommission soll in der Herbstsession folgendes beschlossen werden: Erhöhung des Frauenrentenalters bei minimaler Mehrwertsteuererhöhung (0.3 Prozentpunkte von IV übernommen plus 0.3 Prozentpunkte zusätzlich), Einführung einer sogenannten Stabilisierungsregel, die das Rentenalter schon bald auf 67 Jahre erhöht, Reduktion der Ausgleichsmassnahmen zur Senkung des Mindestumwandlungssatzes, so dass trotz Zusatzbeiträgen für viele künftige Rentner/innen Rentenverluste entstehen. Dazu kommen die Abschaffung der Kinderrenten in der AHV und ein Abbau bei den Witwenrenten. Gleichzeitig darf die Versicherungsindustrie weiterhin per Gesetz Gewinne in Milliardenhöhe aus der beruflichen Vorsorge abschöpfen. Entsprechende Verschärfungen des Bundesrates wurden rückgängig gemacht.
Stolpersteine für eine mehrheitsfähige Reform
Es erklärt sich von selbst, dass die Bevölkerung eine so drastische Abbauvorlage bei einer Referendumsabstimmung kaum jemals akzeptieren wird. Dies bestätigt eine kürzlich aktualisierte Studie der Universität Zürich zur Altersvorsorge 2020. Die Studie zeigt, dass eine Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre die Wahrscheinlichkeit, dass das Reformpaket unterstützt wird um 12 Prozentpunkte schmälert. Weitere eindrückliche Resultate: Eine Senkung des Mindestumwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge ohne Ausgleich durch ein höheres Sparguthaben schmälert die Chancen für eine Zustimmung um weitere 7 Prozentpunkte. Eine Reform, welche die Abschaffung der Witwenrenten beinhaltet, kostet weitere 14 Prozentpunkte an Zustimmung. Demgegenüber erhöht der Zugang von Personen mit tiefem Einkommen oder Teilzeitpensum zu Pensionskassenrenten (via Senkung von Eintrittsschwelle und Koordinationsabzug) die Zustimmung zur Reform um über 5 Prozentpunkte. Eine Erhöhung der AHV-Renten um 70 Franken pro Monat steigert die Wahrscheinlichkeit der Zustimmung ebenfalls um 3-4 Prozentpunkte.
Politische Verantwortungslosigkeit und Zynismus
Das verabschiedete Paket kommt in diesem Kontext schon fast zynisch daher. Es stellt sich also die Frage nach dem politischen Verantwortungsbewusstsein der Entscheidungsträger. Haben die Parteiexponenten mutwillig an ihrer Basis vorbei politisiert? Sind den Parteien die Haltungen ihrer Mitglieder egal?
Besonders eindrücklich ist der Elite-Basis-Konflikt bei der SVP: Eine Erhöhung des Rentenalters auf 67 kostet bei den SVP-Wähler/innen gemäss Studie mit 13 Prozentpunkten sogar noch mehr an Unterstützung für die Reform als beim Durchschnittswähler. Auch eine Senkung des Mindestumwandlungssatzes ohne Ausgleich und eine Einschränkung der Witwenrenten sind Massnahmen, welche die Unterstützung der SVP-Wähler/innen für ein Reformpaket merkbar schmälern. Und trotzdem wurde die Reform mit kräftiger Unterstützung der SVP-Kommissionsmitglieder genau in diese Richtung getrieben. Interessant ist, dass die SVP, die sonst alles und jedes kommentiert, von sich aus keinen Kommentar zu den Beschlüssen der Kommission abgab.
Eine neue Classe Politique in der Altersvorsorge?
Offenbar ist es den Volksvertretern der SVP zu mühsam für ihre Abbaupläne in der Altersvorsorge hinzustehen. Sie verhalten sich damit genau wie die Classe Politique, die sie immer kritisieren. Gegen aussen volksnah, hintenrum mithelfen den Rentner/innen und Arbeitnehmenden das Geld aus der Tasche zu ziehen. Dies u.a. im Dienste der milliardenschweren Versicherungsgesellschaften. Das ist zynisch, unehrlich und verantwortungslos. Wer in der Altersvorsorge abholzen will, soll gefälligst dazu stehen. Die intransparenten Spielchen sind wohl taktisch gewollt. Der SVP wäre es offenbar recht, wenn die Reform bereits im Parlament abstürzt. Das kann passieren, wenn die SVP das Paket so verschlechtert, dass es die Linke nicht mehr unterstützen kann und es ebenfalls ablehnt. Dann müssten die SVPler ihrer Mitgliederbasis ihre Abbauagenda nicht erklären und könnte den Scherbenhaufen einfach den anderen überlassen.
Suche nach mehrheitsfähigem Kompromiss muss weitergehen
Es ist nun Aufgabe der vernünftigen Kräfte aller Parteien, dafür zu sorgen, dass es nicht soweit kommt und dass in der Reform der Altersvorsorge ein mehrheitsfähiger Kompromiss gefunden wird. Die Reform der Altersvorsorge ist keine Spielwiese, sondern muss die Altersvorsorge zukunftsfähig machen. Der Ständerat hat einen Weg dazu aufgezeigt. Travail.Suisse hat dazu folgende Positionen:
Referenzalter 65: Dieses ist nur zu akzeptieren, wenn damit eine substanzielle Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV verbunden ist. Angemessen wären 1.5 Prozentpunkte. Das eine Prozent des Ständerats ist das Mindeste, was noch unterstützt werden kann. Zudem braucht es für die Frauen Verbesserungen im Bereich der Teilzeitarbeit und der Lohndiskriminierung sowie ein flexibles Rentenalter, das an einen sozialen Ausgleich gekoppelt wird.
Stabilisierungsregel: Travail.Suisse lehnt eine Stabilisierungsregel mit automatischen Rentenkürzungen oder automatischen Rentenaltererhöhungen dezidiert ab. Der Dachverband der Arbeitnehmenden empfiehlt, dem Ständerat zu folgen. Automatische Rentenaltererhöhungen oder Rentenkürzungen werden beim Volk keine Mehrheit finden.
Die Senkung des Mindestumwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge muss kompensiert werden. Die Vermeidung von Rentenkürzungen ist für die Akzeptanz der Reform zentral.
Travail.Suisse empfiehlt folgende Ausgleichsmassnahmen:
• Es ist ein AHV-Zuschlag auszurichten.
• Der Koordinationsabzug ist zu senken. Um Teilzeitarbeitende und Tieflohnbezüger besser zu versichern, ist der Koordinationsabzug proportional zum Einkommen auszugestalten (Koordinationsabzug = ein Viertel des massgebenden Lohnes). Der vorgeschlagene Koordinationsabzug nach Beschäftigungsgrad benachteiligt schlecht Verdienende.
• Eine Vorverlegung des Sparprozesses ist eine symbolische Massnahme und abzulehnen. Es bringt nichts, Lehrlingslöhne zu versichern.
• Die Altersgutschriften müssen angepasst und ab 45 Jahren konstant gehalten werden.
• Die Übergangsgeneration muss zentral finanziert werden. Dies kann über den Sicherheitsfonds BVG geschehen. Eine dezentrale Lösung ist unsolidarisch und für die betroffenen Pensionskassen nicht finanzierbar.
Institutionelle Massnahmen: Erhöhung der Legal Quote. Seit langem fordert Travail.Suisse, dass die überhöhten Gewinne und überteuerten Risikoprämien im BVG-Geschäft der Lebensversicherer begrenzt werden. Das Minimum ist der Vorschlag des Bundesrates, die Legal Quote auf 92 Prozent zu erhöhen und entschiedener gegen missbräuchlich hohe Risikoprämien vorzugehen. Die Vorschläge der SGK-N bedeuten dagegen konkret, dass alle Versicherten den Gürtel enger schnallen müssen, nur die profitorientierten Versicherer nicht. In einer allfälligen Volksabstimmung wird dieser Widerspruch bei der Bevölkerung nicht gut ankommen.