Lebenserwartung steigt langsamer – Ungleichheit bei gesunden Lebensjahren wächst
Die Lebenserwartung ist in den letzten Jahren zwar noch gestiegen, allerdings immer langsamer. Dies führt dazu, dass die Finanzierung der Altersvorsorge weniger herausfordernd werden dürfte als bisher angenommen. Auffällig ist allerdings, dass sich die Lebenserwartung stark unterscheidet. Hohe Einkommen, geringe Berufsrisiken und eine lange Ausbildung erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein langes und gesundes Leben massgeblich. Insbesondere in der beruflichen Vorsorge wird dieser Aspekt nicht berücksichtigt und führt dadurch zu einer Umverteilung, die sich nicht rechtfertigen lässt.
Die Lebenserwartung hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz deutlich erhöht. Das Leben dauerte bei der Einführung der AHV 1948 beim Renteneintritt durchschnittlich noch 12 Jahre für Männer und 14 Jahre für Frauen. Im Jahr 2019 sind es bei den Männern 20, bei den Frauen knapp 23 Jahre. Diese Zuwächse bei der Lebenserwartung haben sich aber verlangsamt. In den letzten 20 Jahren stieg die Lebenserwartung zwar weiterhin an, die Zuwächse wurden aber zunehmend geringer.
Grafik: Die Grafik zeigt das Wachstum der Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren. Die ausgezogenen Linien zeigen den linearen Trend. Demnach wuchs die Lebenserwartung in den letzten 20 Jahren, allerdings immer weniger stark. Zudem findet eine allmähliche Angleichung zwischen den Geschlechtern statt, da die Zunahme der Lebenserwartung bei den Männern stärker ausfällt.
Anpassung der demographischen Szenarien
Dies führt dazu, dass das neue – vor der Covid-Pandemie - vom Bundesamt für Statistik erstellte Szenario die Auswirkungen des demographischen Wandels weniger dramatisch zeichnet. Im Jahr 2035 beträgt demnach das Verhältnis zwischen den 65-jährigen und älteren Personen zu den 20- bis 64-jährigen noch 41.8 Personen. Im vorhergehenden Szenario lag dieser Wert noch bei 43.6 Personen. Die Ausgaben für die AHV fallen als Folge davon im Jahr 2030 voraussichtlich um eine Milliarde tiefer aus. Die finanziellen Herausforderungen in der AHV bleiben damit weiterhin bestehen, sie sind aber weniger gross als bisher angenommen und sie können ohne Leistungseinbussen gemeistert werden. Wie, das zeigt beispielsweise der Vorschlag von Travail.Suisse („Travail.Suisse-Transversale“).
Lebenserwartung – mehr als eine Glückssache
Benedikt Weibel, Rentner (74 Jahre) und ehemaliger Chef der Schweizerischen Bundesbahnen, hat im Interview in der „Sonntags-Zeitung“ erklärt (1), dass eine Erhöhung des Rentenalters auf 70 Jahre „kein Problem“ darstelle. „Die sogenannten jungen Alten“ seien heute „körperlich und geistig derart gesund“ und „absolut leistungsfähig.“ Die Zahlen sprechen dafür, dass Herr Weibel nicht über den eigenen Tellerrand blickt und seine politischen Aussagen aus seinem unmittelbaren persönlichen Umfeld ableitet. Ein Blick auf einige Studien und Statistiken zeigt nämlich ein anderes Bild: Die Gesundheit im Alter ist sehr ungleich verteilt. Die Lebenserwartung wird in der Regel als Durchschnitt berechnet. Tatsächlich leben aber nicht alle Menschen gleich lang. Die Dauer des Lebens folgt dabei nicht einfach dem Zufall. Sie ist wesentlich von der Höhe des Einkommens, dem Beruf, dem Bildungsabschluss und damit der sozialen Herkunft abhängig (Nollert 2017)(2). Dies zeigen verschiedene Studien klar. In der Forschung zur Schweiz wird in der Regel hauptsächlich die Ausbildung berücksichtigt, weil die Daten nicht mit Löhnen oder Berufen verbunden werden können. Eine höhere Ausbildung ist dabei normalerweise auch mit einem höheren Einkommen verbunden. Remund et. al. (2019) (3) zeigen beispielsweise, dass in der Schweiz die Lebenserwartung im Alter von 30 Jahren bei einer Person ohne nachobligatorische Ausbildung und damit einem tiefen Lohn bei Männern fünf Jahre tiefer liegt als bei Personen mit einer tertiären Ausbildung (z.B. Universitätsabschluss). Bei Frauen ist diese Differenz mit 2.5 Jahren etwas weniger gross. Zwar hat sich der Unterschied in der Lebenserwartung seit den 1990er Jahren leicht verringert. Gleichzeitig vergrösserte sich aber der Unterschied bei den gesunden Lebensjahren.
Mehr als Überleben – gesunde Rentnerjahre unterscheiden sich massiv
Männer mit einer tertiären Ausbildung (z.B. Universität) und damit einem höheren Lohn und einem geringeren Berufsrisiko weisen in der Schweiz auch deutlich mehr gesunde Lebensjahre auf als Männer ohne nachobligatorische Ausbildung (Remund et. al. 2019, S. 1176). Dieser Unterschied hat sich seit den neunziger Jahren vergrössert. Auch die Lebensjahre mit einer schlechten Gesundheit haben für Frauen und Männer ohne nachobligatorische Ausbildung in den letzten Jahren zugenommen, während sie im Durchschnitt über alle Bevölkerungsschichten gleich geblieben sind.
Was bedeutet der Vorschlag Rentenalter 70 von Herrn Weibel beispielsweise für einen Mann wie Herrn Friedli, einem Hilfsarbeiter mit eher unterdurchschnittlichen Einkommen und ohne nachobligatorische Ausbildung? Seine Lebenserwartung beträgt beim heutigen Renteneintritt mit 65 Jahren noch 16 Jahre (Wanner 2012, S. 354 ) (4). Die Lebenserwartung ist mit 65 Jahren damit um drei Jahre tiefer als diejenige von Herrn Weibel. Bei einem Rentenalter von 70 Jahren werden daraus noch 11 Rentnerjahre. Davon verbringt er sehrwahrscheinlich noch sechs Jahre bei schlechter Gesundheit (Remund et. al. 2019, S. 1177). Es bleiben ihm also fünf Rentnerjahre bei nicht schlechter Gesundheit. Deutlich besser sieht es für Herrn Weibel aus. Bei einer Lebenserwartung von etwa 84 Jahren muss er mit 1.5 Rentnerjahren bei schlechter Gesundheit rechnen. Das ergibt immerhin noch 12.5 gesunde Rentnerjahre, 7.5 gesunde Rentnerjahre mehr als bei Herrn Friedli. Vorausgesetzt natürlich, dass die Arbeitstätigkeit bis 70 Jahre der Gesundheit nicht mehr schadet, als dies heute der Fall ist. Bei Herrn Weibel scheint dies kein Problem zu sein. Wie sieht es bei Herrn Friedli nach 49 Jahren Arbeit als Hilfsarbeiter aus? Vermutlich etwas anders. Die Wahrscheinlichkeit, dass Herr Friedli bereits vor dem Rentenalter stirbt, ist zudem schon heute deutlich höher als bei Herrn Weibel (Wanner 2012, S. 352).
Die Situation für Personen mit mittleren Einkommen und einem Lehrabschluss liegt irgendwo zwischen derjenigen von Herrn Friedli und Herrn Weibel. Sie haben also eine etwas höhere Lebenserwartung und mehr gesunde Rentnerjahre vor sich als Herr Friedli, aber deutlich weniger als Herr Weibel.
Invalidität trifft im Alter mehr als jede/n 10
Wie stark gesundheitliche Einschränkungen im Alter zunehmen, zeigt auch ein Blick in die IV-Statistik. Im Alter von 65 Jahren liegt der Anteil der IV-Rentnerinnen und Rentner bei schätzungsweise 12%. Etwa jede/r Achte bezieht vor dem Renteneintritt somit eine Rente der Invalidenversicherung. Auch das spricht gegen die Aussage von Benedikt Weibel, dass ältere Arbeitnehmende heute durchwegs gesund und leistungsfähig sind. Eine Erhöhung des Rentenalters auf 70 Jahre würde die IV-Rentnerquote beim Renteneintritt auf annähernd 20% erhöhen. Dies ist auch ein Grund dafür, weshalb ein höheres Rentenalter die Kosten der Invalidenversicherung massiv erhöhen würde. Berechnungen von Travail.Suisse zeigen, dass Rentenalter 67 für Frauen und Männer alleine in der IV zu Zusatzkosten von schätzungsweise 770 Millionen Schweizer Franken pro Jahr führen würde.
Besonders hoch ist die Invalidität übrigens bei Personen in der Industrie, im Handwerk, im Baugewerbe und im Gastgewerbe. Die Berufsrisiken sind somit bereits vor dem Rentenalter sehr ungleich verteilt und waren bei Herrn Weibel deutlich geringer als bei Herrn Friedli - ein Leben lang.
Ungleiche Lebenserwartung führt zu Umverteilung in der beruflichen Vorsorge
Vor allem die berufliche Vorsorge berücksichtigt die unterschiedliche Lebenserwartung heute nicht. Der Mindestumwandlungssatz, welcher im Prinzip von der durchschnittlichen Lebenserwartung und den Kapitalerträgen abhängt, ist für den Hilfsarbeiter gleich hoch wie für den CEO. Der Hilfsarbeiter bezieht dadurch mit 65 Jahren nicht nur die weit tiefere Rente als der CEO, er bezieht sie auch deutlich weniger lang. Gleiches gilt in etwas geringerem Ausmass für die Pflegerin, den Schreiner, den Logistiker oder die Verkäuferin. Sie alle bezahlen in der beruflichen Vorsorge mit Blick auf die Lebenserwartung für die gesellschaftlichen Privilegien der CEOs, Ärztinnen und Professoren. Eine Möglichkeit, diese ungewollte Solidarität zu reduzieren, ist der im Rahmen der BVG-Reform von den Sozialpartnern vorgeschlagene solidarisch finanzierte Rentenzuschlag. Damit können zwei Formen der Umverteilung reduziert werden: Erstens senkt der tiefere Mindestumwandlungssatz die Umverteilung von aktiven Arbeitnehmenden zu Rentner*innen und andererseits von überobligatorischen zu obligatorischen Leistungen. Zweitens sinkt durch den solidarisch finanzierten Rentenzuschlag die Umverteilung von gesellschaftlich weniger Privilegierten mit einer tieferen Lebenserwartung zu gesellschaftlich Privilegierten. Damit wird der häufig formulierte Wunsch nach weniger Umverteilung in der beruflichen Vorsorge besser erreicht. Denn sicher ist: Wer von der einen Umverteilung spricht, darf von der anderen nicht schweigen. Ob das Herr Weibel auch so sieht?