Die Renteninitiative will das Rentenalter in der Schweiz zunächst auf 66 Jahre und anschliessend sukzessive weiter erhöhen. Eine breit angelegte Studie zeigt nun, dass die Erhöhung des Rentenalters die Sterblichkeit erhöht. Es stellt sich in der Abstimmung über die Renteninitiative also die Frage, ob wir eine wichtige Errungenschaft unseres Sozialstaats aufgeben wollen: Ein langes Leben.
Mit Renteninitiative droht erhöhte Sterblichkeit
Bisher gab es kaum Studien zu den Effekten des Pensionierungszeitpunkts auf die Sterblichkeit der Betroffenen. Das hat auch damit zu tun, dass sich nicht immer geeignete Vergleichsgruppen finden, so dass verzerrende Effekte nicht ausgeschlossen werden können, oder dass sich die Studien auf bestimmte Bevölkerungsgruppen konzentrieren mussten.
Neue Studie zu Sterblichkeit und Rentenalter
Die Studie der Ökonom:innen Cristina Bellés-Obrero, Sergi Jiménez-Martín und Han Ye aus dem Jahr 2023 untersucht die Rentenreform in Spanien. Die Reform erlaubte es Personen, die vor 1967 in das Rentensystem einbezahlt hatten, mit 60 Jahren in Pension zu gehen. Personen, die erst nach 1967 eingezahlt hatten, konnten sich hingegen erst mit 65 Jahren pensionieren lassen. Die Studie hat nun diese beiden Personengruppen verglichen und die Frage gestellt, wie sich das unterschiedliche Rentenalter auf die Sterblichkeit auswirkt.
Die Daten aus Spanien zeigen, dass eine Verzögerung des Ausstiegs aus dem Arbeitsmarkt um ein Jahr das Risiko, im Alter von 60 bis 69 Jahren zu sterben, um 4,2 Prozentpunkte erhöht (was einem relativen Anstieg von 43 % entspricht). Die Studie zeigt also: Wer ein Jahr länger arbeitet, hat ein höheres Risiko früher zu sterben.
Berufliche Belastung beeinflusst die höhere Sterblichkeit
Da die Studie einen breiten Ausschnitt der Bevölkerung betrachtet, konnte sie die Sterblichkeit in unterschiedlichen Gruppen vergleichen und Unterschiede untersuchen. Der Anstieg der Sterblichkeit ist bei jenen Arbeitnehmenden stärker, die in Sektoren mit hoher physischer Belastung (1) arbeiten. Dort zeigt sich eine erhöhte Sterblichkeit von 6.8 Prozentpunkten im Gegensatz zu den restlichen Sektoren mit 2.5 Prozentpunkten erhöhter Sterblichkeit.
Die höhere Sterblichkeit zeigt sich auch in Berufen mit hohen psychosozialen Belastungen. Ein späterer Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt um ein Jahr erhöht für Personen in diesen Berufen das Risiko, im Alter zwischen 60 und 69 Jahren zu sterben, um 5,7 Prozentpunkte. Für Personen in Berufen mit geringen psychosozialen Belastungen ist die erhöhte Sterblichkeit hingegen mit 2,8 Prozentpunkten weniger ausgeprägt.
Die Unterschiede zeigen sich auch in Bezug auf die klassische Unterscheidung in der Forschung von blue collar workers, also Industriearbeiter:innen und Handwerker:innen, sowie white collar workers, also Angestellten in Büro-, Handels- und Dienstleistungsberufen. Ein späterer Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt um ein Jahr erhöht das Sterberisiko für blue collar workers um 5,4 Prozentpunkte, bei white collar workers um 2,7 Prozentpunkte. Für körperlich hart arbeitende Arbeitnehmende im Industriesektor erhöht sich das Sterberisiko also stärker als für Arbeitnehmende im Dienstleistungssektor.
Bedeutung für die Renteninitiative
Die Studie zeigt deutlich, dass die Erhöhung des Rentenalters zu einer erhöhten Sterblichkeit führt und dass Personen, die in belastenden Berufen arbeiten, stärker davon betroffen sind. Da die Renteninitiative das Rentenalter für alle automatisch erhöht und keine soziale Abfederung der Erhöhungen vorsieht, ist mit grossen Unterschieden in der Auswirkung auf die Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz zu rechnen.
Für Personen, die in körperlich und psychisch belastenden Berufen arbeiten, ist die Annahme der Renteninitiative ein grosses Risiko. Für sie erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, früher zu sterben deutlicher. Dies, obwohl sie bereits heute in der Tendenz von einer geringeren Lebenserwartung betroffen sind. Für die Schweiz zeigen Studien (2) klar, dass es einen deutlichen Unterschied in der Lebenserwartung nach Bildungsabschluss und nach Einkommen gibt. Ein Mann mit einem Berufsabschluss lebt in der Schweiz rund drei Jahre weniger lang als ein Akademiker. Ein Mann aus dem tiefsten Einkommenssegment lebt sogar sechs Jahre weniger lang als ein Mann aus dem höchsten Einkommenssegment.
Die Daten des Bundesamts für Statistik zu den Frühpensionierungen in der Schweiz zeigen, dass es auch hier Effekte gibt, die die unterschiedliche Lebenserwartung noch verstärken. Auffällig ist bei der Frühpensionierungsquote zum Beispiel, dass die Banken- und Versicherungsbranche mit sehr vielen Frühpensionierungen hervorsticht. Es ist davon auszugehen, dass dies im Zusammenhang steht mit den hohen Gehältern, die in dieser Branche ausbezahlt werden und die es den Betroffenen finanziell erlauben, sich frühpensionieren zu lassen.
Beispiel Baubranche
Auch in der Baubranche gibt es verhältnismässig viele Frühpensionierungen, weil es seit 2003 den Gesamtarbeitsvertrag für den flexiblen Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe (GAV FAR) gibt, der eine Vorfinanzierung der Frühpensionierung in der Baubranche ermöglicht. Die Baubranche gehört zweifelsohne zu denjenigen Branchen, in denen die körperliche Belastung durch den Beruf besonders hoch ist. Die neue Studie zu den Auswirkungen der spanischen Rentenreform bestätigt, dass die Frühpensionierungslösung für den Bau zentral ist, um den Arbeitnehmenden in dieser Branche einen Ruhestand zu ermöglichen.
Die Frühpensionierungslösung des GAV FAR würde mit der Rentenaltererhöhung, welche die Renteninitiative vorsieht, allerdings deutlich teurer, weil mehr Jahre vorfinanziert werden müssten. Es kann davon ausgegangen werden, dass der GAV FAR das Rentenalter 60 für die Baubranche nicht halten könnte und das Rentenalter somit auch für Personen in der Baubranche erhöht würde. Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der neuen Studie ist diese Aussicht für Personen, die in dieser Branche arbeiten, wortwörtlich fatal.
- Die Studie vergleicht dabei Branchen mit hohen und tiefen Zahlen von Arbeitsunfällen. Zu den Branchen mit hohen Arbeitsunfällen zählt die Studie auf dieser Basis den Bau, die Industrie, den Energie- und den Wasserversorgungssektor sowie den Sanitärbereich (im Original: construction, manufacturing, energy, water, sanitation)
- Moix, Maxime: Écarts d’espérance de vie et inégalités économiques à la retraite en Suisse, Cronos 2020. Remund, A., Cullati, S., Sieber, S. et al. Longer and healthier lives for all? Successes and failures of a universal consumer-driven healthcare system, Switzerland, 1990–2014. Int J Public Health 64,1173–1181 (2019)