Renteninitiative – eine unrealistische und unsoziale Lösung für die Altersvorsorge
In der kommenden Sommersession wird der Nationalrat die sogenannte Renteninitiative behandeln. Der Vorschlag zielt an den Lebensrealitäten der Arbeitnehmenden vorbei und schafft soziale Härten. Die Initiative nimmt keinerlei Rücksicht auf die unterschiedlichen Belastungen der Arbeitnehmenden im Rahmen ihrer Arbeitstätigkeit und erschwert die Verlässlichkeit und Planbarkeit der Pensionierung.
Edith Siegenthaler, Leiterin Sozialpolitik
Die Renteninitiative wurde im Juli 2021 von den Jungfreisinnigen eingereicht. Sie fordert, dass das Rentenalter automatisch an die Lebenserwartung der 65-Jährigen angepasst wird. Steigt die Lebenserwartung, soll gleichzeitig automatisch das Rentenalter steigen. Den Initiantinnen und Initianten schwebt vor, dass das Rentenalter zunächst schrittweise auf 66 Jahre angehoben wird. Anschliessend soll das Rentenalter jeweils in Schritten von maximal zwei Monaten pro Jahr laufend angepasst werden. Den Arbeitnehmenden soll jeweils fünf Jahre vor ihrer Pensionierung bekannt gegeben werden, zu welchem Zeitpunkt sie in Pension gehen können.
Unterschiedliche Belastungen im Erwerbsleben
Die Lebenserwartung ist in der Schweiz sehr unterschiedlich und hängt stark vom Bildungsgrad und somit auch vom Einkommen ab, das eine Person erzielt (vgl. Travail.Suisse: Lebenserwartung steigt langsamer – Ungleichheit bei gesunden Lebensjahren wächst). Ein Mann mit hohem Bildungsgrad lebt rund drei Jahre länger als ein Mann mit tiefem Bildungsgrad. Männer ohne Bildungsabschluss haben eine 17% tiefere Lebenserwartung als Männer mit tertiärem Bildungsabschluss. Bei den Frauen liegt diese Differenz bei 10%. Zudem sind Personen mit höherem Bildungsabschluss sowohl grundsätzlich als auch im Alter oft in einem besseren gesundheitlichen Zustand. So geniessen Personen aus den oberen Einkommensklassen mehr gesunde Jahre im Ruhestand. Sie sind nicht zuletzt deshalb körperlich fit, weil sie in ihrem Berufsleben weniger starken körperlichen Belastungen ausgesetzt waren.
Was bedeutet es nun für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, wenn das Rentenalter stetig erhöht wird? Für Menschen mit einer tieferen Lebenserwartung bedeutet es, dass ihnen ein grösserer Teil ihrer Jahre in Rente gestrichen wird und vor allem auch ein grösserer Teil ihrer gesunden Jahre in Rente.
Weiter ist davon auszugehen, dass das höhere Rentenalter und die damit verbundene längere Erwerbsarbeit Auswirkungen auf die Gesundheit der Rentnerinnen und Rentner haben, weil eine längere Erwerbstätigkeit auch eine längere körperliche Belastung bedeutet. Es ist wahrscheinlich, dass eine Erhöhung des Rentenalters dazu führen wird, dass insbesondere die Lebenserwartung von Personen, die starken körperlichen Belastungen im Berufsalltag ausgesetzt sind, mit der Erhöhung des Rentenalters sinken wird.
Die hohe Lebenserwartung in der Schweiz ist eine Errungenschaft, die wir nicht aufs Spiel setzen sollten. Mit der Erhöhung des Rentenalters laufen wir hingegen Gefahr, dass nicht nur die wohlverdienten Jahre in der Pension verkürzt werden, sondern auch die Lebenserwartung.
Fehlende Planbarkeit
Die meisten Menschen in der Schweiz machen sich etwa ab ihrem fünfzigsten Geburtstag Gedanken darüber, wie sie ihre Pensionierung gestalten wollen. Sie lassen sich ihre Altersersparnisse und ihre Renten berechnen, je nach dem zu welchem Zeitpunkt sie in Pension gehen und machen eine finanzielle Planung ihrer Pensionierung.
Mit der Renteninitiative wäre eine längerfristige und seriöse Planung der Pensionierung ausgeschlossen. Die Arbeitnehmenden sähen sich mit grosser Unsicherheit konfrontiert. Irgendeinmal zwischen dem einundsechzigsten und wohl dem zweiundsechzigsten Altersjahr würden die Arbeitnehmenden den genauen Zeitpunkt ihrer Pensionierung erfahren.
Da die Lebenserwartung der 65jährigen in der Schweiz grossen Schwankungen unterliegt (vgl. folgende Tabelle), wird es zu ähnlich starken Schwankungen des Rücktrittsalters aus dem Erwerbsleben kommen.
Mit der Renteninitiative ist es möglich, dass beispielsweise eine Arbeitnehmerin zwei Monate länger arbeiten muss als ihre Arbeitskollegin, die lediglich ein Jahr älter ist. Der Arbeitskollege hingegen, der ein Jahr jünger ist, muss auch zwei Monate weniger arbeiten, weil die Lebenserwartung der 65-Jährigen – zum Beispiel aufgrund einer Grippewelle – in der Zwischenzeit wieder gesunken ist. Glück hat also, wer zu einem Zeitpunkt pensioniert wird, zu dem öfter Menschen im Pensionsalter sterben. Die Renteninitiative bindet so in ethisch fragwürdiger Weise die wohlverdiente Pensionierung an eine Wette auf die Sterblichkeit der Menschen, die bereits in Pension sind.
Die Renteninitiative will eine unsoziale und willkürliche Regelung für das Rentenalter etablieren. Alle Arbeitnehmenden sollen zu einem späteren Zeitpunkt pensioniert werden – wobei sich das bei denjenigen mit einem tieferen Bildungsgrad und stärkerer körperlicher Belastung viel stärker auswirkt, weil sie eine tiefere Lebenserwartung haben. Die Initiative bringt zudem eine jährliche Festsetzung des Rentenalters mit sich, die willkürlich und unfair ist.