Angriffe auf die Teilzeitarbeit abwehren
Die von Familien in der Schweiz bevorzugte Lösung zur Vereinbarung von Berufstätigkeit und Familienleben, ist die Teilzeitarbeit. Sie ist eine Antwort auf die noch immer ungenügenden Rahmenbedingungen für eine bessere Vereinbarkeit. Teilzeitarbeit betrifft dabei alle Bildungsstufen, Absolventinnen und Absolventen einer höheren Ausbildung sind sicherlich nicht die «Profiteure», als welche sie in jüngster Zeit oftmals kritisiert werden. Angesichts des Mangels an Lernenden und Fachkräften sind die jüngsten bürgerlichen Vorschläge ungeeignet, und darüber hinaus auch unmöglich umzusetzen.
Immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene entscheiden sich für eine Ausbildung auf Tertiärstufe und gegen eine Berufslehre. Diese bereitet der Wirtschaft und Politik Sorgen (1). Schlechte Arbeitsbedingungen (Arbeitszeiten, Wochenendarbeit, tiefe Löhne) werden von Expertinnen und Experten häufig als Grund für diese Abkehr der Jugendlichen von der Berufslehre genannt. Als alleinige Erklärung reicht dies jedoch nicht aus. So leidet etwa die Landwirtschaft – trotz der harten körperlichen Arbeit und der tiefen Löhne – nicht unter einem Mangel an Lernenden. Im Gegenteil, die Zahl der Lernenden nimmt sogar zu (2). Die «OdA AgriAliForm» erklärt diesen Trend mit dem Wunsch vieler junger Menschen nach einer Rückkehr zur Natur, der durch die Pandemie noch verstärkt wurde.
Unter dem Titel «Gerechter studieren» griff der Thinktank Avenir Suisse Mitte März die Absolventinnen und Absolventen einer Tertiärbildung (Universitäten, Hochschulen) an. Nach dem Vorbild von Grossbritannien und Australien plädiert Avenir Suisse für nachgelagerte Studiengebühren, Gebühren also, die erst nach Abschluss der Ausbildung bezahlt werden müssen. Hintergrund dieses Vorschlags ist die vermeintlich frei gewählte Teilzeitbeschäftigung von Hochschulabsolventinnen und -absolventen nach dem Studium. Avenir Suisse geht davon aus, dass mit einem höheren Bildungsabschluss auch höhere Einkommen und damit höhere Steuereinnahmen erzielt werden. Indem sie mehr Steuern zahlen, «bezahlen» die Absolventinnen und Absolventen eines solchen Abschlusses die Kosten zurück, welche die Allgemeinheit für die Finanzierung ihrer Ausbildung aufgebracht hat.
Ein weiterer Angriff auf die Teilzeitarbeit ist die Motion des Walliser FDP-Nationalrats Philippe Nantermod, die Anfang Mai eingereicht wurde: Sie will den Anspruch auf Prämienverbilligung bei der Krankenkasse für Personen mit einem Beschäftigungsgrad von weniger als 80% (bzw. weniger als 150% bei Paaren) einschränken. Er begründet dies damit, «dass Menschen aus dem Mittelstand, die ein volles Gehalt zum Leben brauchen, die Krankenversicherungsprämien von Personen finanzieren, die sich dafür entschieden haben, ihr Arbeitspensum zu reduzieren.»
Der aktuelle Fachkräftemangel steht sicherlich hinter diesen neuesten Ideen der Bürgerlichen. Doch anstatt die Arbeitsbedingungen zu verbessern, damit sie den Erwartungen der jüngeren Generationen entsprechen, kommt es zu regelmässigen Angriffen auf Menschen, die sich für den Weg einer höheren Bildung entscheiden.
Absolventen der Sekundarstufe II entscheiden sich am häufigsten für Teilzeitarbeit
Um beurteilen zu können, ob diese liberalen Vorschläge die richtigen Antworten auf das Problem des Fachkräftemangels sind, lohnt es sich, die neueste Schweizerische Arbeitskräfteerhebung des Bundesamts für Statistik zu konsultieren. Und diese Untersuchung hält einige Überraschungen bereit.
In der Schweiz gibt es 4,5 Millionen Erwerbstätige, von denen 35,2% teilzeitbeschäftigt sind. Dieser Anteil ist in den letzten zehn Jahren relativ stabil geblieben (+2,1 Prozentpunkte). Es besteht also kein Grund zu übermässiger Besorgnis. Zwar nimmt die Teilzeitarbeit leicht zu, dies aber in erster Linie bei den Männern, wo ein rasanter Anstieg zu verzeichnen ist (+43,3% gegenüber +7,8% bei den Frauen).
Wie sieht es mit den berühmten Hochschulabsolventinnen und -absolventen aus, die als «Profiteure» der Allgemeinheit bezeichnet werden? Auch hier gibt es eine Überraschung: Der Aufwärtstrend bei der Teilzeitarbeit betrifft alle Bildungsstufen. Personen mit einer Ausbildung auf Sekundarstufe II arbeiten mittlerweile häufiger Teilzeit als Personen mit einer Ausbildung auf Tertiärstufe (vor zehn Jahren war der Anteil noch gleich hoch). Darüber hinaus wird Teilzeitarbeit auch von Personen ohne nachobligatorische Ausbildung praktiziert (3). Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass das Bildungsniveau allein nicht über Teilzeitarbeit entscheidet. Avenir Suisse irrt, wenn sie die Kosten der höheren Bildung mit den durch Teilzeitarbeit verursachten Steuerausfällen in dieselbe Gleichung setzt.
Teilzeit wird mit Kinderbetreuung und Unterbeschäftigung kombiniert
Wie sieht es mit den Gründen für den Wunsch nach Teilzeitarbeit aus? Ist es eine Komfortlösung, wie Nationalrat Nantermod behauptet? Die Realität sieht anders aus. Die Sicherstellung der Kinderbetreuung stellt immer noch einen der Hauptgründe dar für die Wahl einer Teilzeitstelle, vor allem bei Frauen. Bei den Männern wird als Hauptgrund der Wunsch nach einer Ausbildung angegeben.
Was jedoch am meisten zu irritieren scheint, ist der – von Frauen und Männern – am zweithäufigsten genannte Grund: «Kein Interesse an einer Vollzeitbeschäftigung». Haben wir hier also die Schuldigen identifiziert, die ihre eigenen Interessen auf Kosten der Allgemeinheit verfolgen? Diese Statistik wirft vor allem Fragen über den Stellenwert der Arbeit im Leben der Menschen auf, über ihre Arbeitsbedingungen und den Sinn, den sie daraus ziehen.
Dies wurde oft analysiert: Teilzeitarbeit steht für Frauen in engem Zusammenhang mit den Rahmenbedingungen, die die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben ermöglichen bzw. verunmöglichen (z.B. ausreichend verfügbare und bezahlbare Krippenplätze, Entlastungsangebote für pflegebedürftige Angehörige, usw.). Aus diesen Statistiken lässt sich leicht schlussfolgern, dass Teilzeitarbeit in den meisten Fällen nicht die Wahl von privilegierten Hochschulabsolventinnen und -absolventen ist – auch wenn es diese Fälle zweifelsohne gibt.
Das wahre Gesicht der Teilzeitarbeit
Ist Teilzeitarbeit wirklich immer freiwillig? Sobald die Kinder selbstständig geworden sind, können Frauen, die ihre Arbeitszeit erhöhen möchten, dies oftmals nicht tun. Jede fünfte Frau ist von Unterbeschäftigung betroffen, so die BfS-Studie «Mütter auf dem Arbeitsmarkt 2021». Ausserdem ist mehr als die Hälfte der arbeitslosen Mütter bereit, bei einem guten Angebot wieder zu arbeiten. Der Ball scheint bei den Arbeitgebenden zu liegen, angemessene Arbeitsbedingungen zu bieten, damit die Frauen mehr arbeiten können.
Wie viele Unternehmen oder Organisationen gibt es, die nicht genügend Mittel haben, um Personen zu 100% einzustellen? Wie viele Arbeitnehmende gibt es, die nur einen Teilzeitjob bekommen, obwohl sie gerne mehr arbeiten würden? Teilzeitarbeit wird oft von den Arbeitgebenden selbst auferlegt.
Und wie soll man vorgehen, wenn es nicht genügend Krippenplätze gibt oder die Kosten exorbitant hoch sind? Wie lässt sich die Berufstätigkeit beider Elternteile mit ihrem Familienleben vereinbaren, wenn sie keine Grosseltern haben, die einspringen können? Teilzeitarbeit ist in der Schweiz das Instrument Nummer eins, um die Vereinbarkeit zu ermöglichen. Wenn nun die Personen angegriffen werden, die darauf zurück greifen müssen, zeugt dies von einer krassen Verkennung der Realität.
Der Vorschlag von Nantermod ist zudem unmöglich umzusetzen, es sei denn, man würde innerhalb der Verwaltung eine «Teilzeitpolizei» einrichten. Wie soll festgestellt werden, welche Gründe stichhaltig wären und welche nicht? Wer soll bei einem Antrag auf Krankenkassenzuschüsse ermitteln und wie viel wird diese Mehrarbeit kosten? Nationalrat Nantermod scheint sich der Schwierigkeit bewusst zu sein, da er eine lange Liste von Ausnahmen vorsieht.
Bestürzend ist, dass der neueste «Geistesblitz» von Avenir Suisse de facto das ungleiche zeitgenössische bürgerliche Modell fördert, bei dem – normalerweise – der Mann zu 100 Prozent arbeitet und seine Partnerin Teilzeit. Gemäss dem Vorschlag müsste der Mann die Kosten für sein Studium nicht zurückzahlen, die Frau aber schon. Im Gegensatz dazu würde ein Paar, das sowohl im Beruf als auch im Familienleben gleichberechtigt leben möchte, z.B. indem beide je 60 oder 70 % arbeiten, bestraft werden, da beide ihre Studienkosten zurückzahlen müssten. Und dies, obwohl sie aufgrund ihrer Wahl weniger auf externe Kinderbetreuung angewiesen sind, deren Kosten zum Teil von der Allgemeinheit getragen werden müssen. Ein schönes Eigentor!
Quellen:
1: Laut Bundesamt für Statistik stieg die Zahl der Lernenden auf Sekundarstufe II (Berufsbildung) zwischen 2005 und 2022 um 12,9%, im Tertiärsektor (höhere Fachschulen) um 63,8%.
2: Im Jahr 2012-2013 zählte die Branche 3’339 Lernende, im Jahr 2023 werden es 3’917 sein, was einem Anstieg von 17,3 % in zehn Jahren entspricht.
3: Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten ohne obligatorische Weiterbildung liegt bei 30,2 %, gegenüber 34 % bei Personen mit einem Abschluss auf Tertiärstufe und 37,9 % bei Personen mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II.