Lohndiskriminierung: 52 Organisationen fordern endlich Konsequenzen
Am 3. März haben auf den Aufruf von Travail.Suisse hin 52 Organisationen und Verbände einen offenen Brief an den Bundesrat unterzeichnet. Sie rufen ihn auf, sofort Massnahmen zur Beseitigung der Lohndiskriminierung zu ergreifen. Obwohl das Bundesamt für Justiz (BJ) eine sehr schlechte Zwischenbilanz zum Gleichstellungsgesetz veröffentlicht hat, kommen seitens des Bundesrates keine Vorschläge, um die Einhaltung des Gesetzes durch die Unternehmen zu verbessern. Er wartet zu und möchte lediglich die Wirksamkeit des Gesetzes zwei Jahre früher als geplant überprüfen lassen. Mehrere Parlamentarierinnen und Parlamentarier wollen die gewaltigen Lücken im Gesetz unverzüglich beseitigen. Auch wenn das Parlament im Moment keine Gesetzesrevision wünscht, zeichnet sich eine solche im Zuge der laufenden Entwicklungen in der Europäischen Union betreffend die Transparenz von Unternehmen in Nachhaltigkeitsfragen deutlich ab.
Der von 52 Organisationen unterzeichnete offene Brief forderte vom Bundesrat zweierlei: die unverzügliche Veröffentlichung des externen Evaluationsberichts zum revidierten Gleichstellungsgesetz (GlG) und die Verabschiedung griffiger Massnahmen gegen die Lohndiskriminierung. Möglicherweise hat der Bundesrat die erste Forderung bereits zur Kenntnis genommen, denn der lang erwartete und im Sommer 2024 fertiggestellte Bericht wurde nur wenige Tage später, am 7. März veröffentlicht.
Nun bleiben noch die anderen Forderungen, deren Aktualität seit der Revision des GlG im Jahr 2018 ungebrochen ist. In der Tat sind weniger als 1 Prozent der in der Schweiz tätigen Unternehmen (mit 100 oder mehr Angestellten) gesetzlich verpflichtet, eine Lohngleichheitsanalyse durchzuführen. Schlimmer noch: Die Unternehmen haben keinerlei Kontrolle zu befürchten, müssen ihre Ergebnisse keiner Behörde melden und auch keine Korrekturmassnahmen ergreifen. Es sind keine Sanktionen vorgesehen, weder für den Fall, dass das Gesetz nicht eingehalten wird, noch für den Fall, dass ein Unternehmen, das eine systematische Lohndiskriminierung feststellt, nichts unternimmt und somit auch keine Gegenmassnahmen ergreift. Es kommt also letztlich ganz darauf an, ob die Unternehmen gewillt sind, ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen und die Situation zu korrigieren.
Wenig überraschend kommt die Zwischenbilanz zum Schluss, dass sich über die Hälfte der befragten Unternehmen bei einem oder mehreren der drei vorgesehenen Schritte (Lohnanalyse, Überprüfung der Analyse durch eine externe Stelle und Kommunikation der Ergebnisse an die Belegschaft) nicht an das Gesetz hält. Dies entspricht den Ergebnissen des Barometers Gute Arbeit vom November 2023: Zwei Drittel der Arbeitnehmenden gaben damals an, nicht über die Ergebnisse der Lohnanalysen informiert worden zu sein, und fast ein Viertel der Arbeitnehmenden (23,9 %) war der Ansicht, dass die Lohngleichheit in ihrem Unternehmen nicht eingehalten wird. Zwei Drittel (66,4 %) sagten, dass die Ergebnisse der Lohngleichheitsanalyse der Belegschaft nicht mitgeteilt wurden, obwohl die Unternehmen bis Juni Zeit hatten, um den gesetzlich vorgeschriebenen vollständigen Analysezyklus abzuschliessen.
Als Erklärung für die Nichteinhaltung der gesetzlichen Analysepflicht verweist der Bericht des BJ eindeutig auf die fehlenden Sanktionen. Travail.Suisse kritisiert dieses Fehlen von Sanktionen seit der Revision des Gesetzes und bezeichnet dieses seit Beginn als zahnlosen Papiertiger. Angesichts dieses beispiellosen Mangels an Engagement seitens der Unternehmen einerseits und der Regierung andererseits ist es nun am Parlament, das Ruder herumzureissen und die gewaltigen Lücken im Gesetz unverzüglich zu schliessen.
Parlament lanciert Vielzahl an Vorstössen
Da der Bundesrat nicht bereit war, zu handeln, beschlossen diverse Parlamentarierinnen und Parlamentarier, das Heft in die Hand zu nehmen. Im Dezember 2024 reichte Nationalrätin Léonore Porchet, Vizepräsidentin von Travail.Suisse, eine parlamentarische Initiative ein, die verlangt, dass alle vom Gesetz betroffenen Unternehmen ohne Ausnahme die Lohngleichheitsanalyse wiederholen müssen. Nationalrätin Kathrin Bertschy hat dasselbe Thema am Ende der Frühjahrssession in einer Motion aufgegriffen. Am 6. März hat Ständerätin Maya Graf eine parlamentarische Initiative eingereicht, die die Abschaffung der Sunset-Klausel fordert, die besagt, dass die Pflicht zur Lohngleichheitsanalyse am 1. Juli 2032 automatisch aus dem Gesetz gestrichen wird. Die Präsidentin von transfair, Greta Gysin, fordert, dass Unternehmen, die eine nicht erklärte Lohnungleichheit zwischen Frau und Mann feststellen, verpflichtet werden, Korrekturmassnahmen zu ergreifen. Sie will zudem, dass Sanktionen gegen Unternehmen verhängt werden können, die ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkommen.
Ein gleich lautendes Postulat wurde schliesslich sechsmal von Vertreter:innen aller Fraktionen eingereicht. Darin wird eine Analyse der Lohnunterschiede bei der selbstständigen Erwerbstätigkeit verlangt. Denn in diesem Bereich verdienen die betroffenen Frauen in der Schweiz durchschnittlich 20 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Zudem seien gezielte Lösungen zur Beseitigung dieser nicht zu rechtfertigenden Unterschiede zu identifizieren.
Doppeltes Risiko einer Wettbewerbsverzerrung
Beobachterinnen und Beobachter der Bundespolitik sind der Ansicht, dass das Parlament in seiner aktuellen Zusammensetzung nicht so bald eine Revision des Gleichstellungsgesetzes vornehmen wird. Doch es ist gut möglich, dass diese Meinung aufgrund der aktuellen Entwicklungen in den Mitgliedsländern der Europäischen Union bald widerlegt wird.
Ab Juni 2027 werden Schweizer Unternehmen, die in der EU tätig sind, nämlich der Entgelttransparenzrichtlinie 2023/970 unterstehen. Die Einhaltung der Regeln zur Entgelttransparenz wird von einer Behörde überwacht und mit wirksamen Massnahmen sanktioniert, einschliesslich finanzieller Sanktionen, u a. mit Massnahmen, die deutlich strenger sind als die im GlG vorgesehenen [1]. Der Bundesrat hat im Herbst 2024 einen Vorentwurf zu nichtfinanziellen Fragen und zur nachhaltigen Unternehmensführung in die Vernehmlassung geschickt, der Änderungen im Obligationenrecht bewirkt. Travail.Suisse hat am 26. September 2024 [2] an dieser Vernehmlassung teilgenommen und den Bundesrat insbesondere aufgefordert, dieses Dossier und dasjenige der Lohngleichheit konsistent zu behandeln.
Die geplanten Änderungen des Obligationenrechts werden de facto in einer Wettbewerbsverzerrung zwischen Unternehmen resultieren, die ausschliesslich in der Schweiz tätig sind, und solchen, die in EU-Ländern tätig sind. Diese Verzerrung kommt zu derjenigen hinzu, auf die das BJ bereits in seiner Zwischenbilanz hingewiesen hat. Darin wird hervorgestrichen, dass Arbeitgebende, die sich an das GlG gehalten haben, dafür personelle und finanzielle Ressourcen aufgewendet haben, ganz im Gegensatz zu den Arbeitgebenden, die ihre gesetzlichen Verpflichtungen missachtet haben. Letztere haben möglicherweise gar von wirtschaftlichen Vorteilen auf Kosten geringerer Frauenlöhne profitiert. Das BJ kommt zum Schluss, dass es zu unerwünschten Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Unternehmen führt, wenn eine Vielzahl von Arbeitgebenden mit diskriminierenden Löhnen am Markt teilnehmen. Für Unternehmen besteht die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung in zweierlei Hinsicht.
Eine Revision des GlG zeichnet sich also immer deutlicher ab, und das Parlament wird sich unweigerlich damit befassen müssen. In der Zwischenzeit sollte es sich der derzeitigen Probleme bewusst werden und alle bereits eingereichten Anträge auf Berichtigung des GlG wohlwollend aufnehmen.
Quellen
[1] 8. Oktober 2024. «Lohngleichheit: Europas Fortschritte als Ansporn für die Schweiz» Valérie Borioli Sandoz, Travail.Suisse.
Laut der Richtlinie 2023/970 wird alle drei Jahre eine Analyse fällig, für Unternehmen ab 250 Angestellten sogar jährlich, und zwar ohne Ausnahme. Die Arbeitgebenden sind verpflichtet, der zuständigen Aufsichtsstelle umfassende Informationen über das Lohngefälle zu übermitteln. Von den Staaten wird verlangt, dass sie die Anwendung des Grundsatzes der Lohngleichheit systematisch überwachen und die Einhaltung der Bestimmungen durchsetzen.
[2] Die Richtlinie 2023/970 verlangt absolute Lohntransparenz, ein leicht zugängliches Informationsrecht für die Belegschaft, eine gemeinsame Beurteilung der Entlöhnung mit den Arbeitnehmervertretungen und staatliche Massnahmen zum Schutz der Arbeitnehmenden und ihrer Vertretungen vor Rachekündigungen, ebenso wie die Verpflichtung der Unternehmen, Massnahmen zu ergreifen, und die Verpflichtung der Staaten, abschreckende Sanktionen vorzusehen. Siehe die Antwort von Travail.Suisse vom 26. September 2024 auf die Vernehmlassungen zu Transparenz in Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen – Änderung des Obligationenrechts.