Lohndiskriminierung: Evaluation belegt grosse Mängel bei der Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes
Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, hat auf der Basis von Daten von rund 200 Unternehmen mit insgesamt 500'000 Beschäftigten die Umsetzung der gesetzlich geforderten Lohnanalysen ausgewertet. Die Evaluation zeigt deutlich, dass das Gleichstellungsgesetz bedeutende Lücken und Mängel aufweist, welche so rasch wie möglich behoben werden müssen. Travail.Suisse und seine Verbände überreichen den Evaluationsbericht heute an Bundespräsidentin Viola Amherd, mit der Forderung endlich ein griffiges Gesetz gegen die Lohndiskriminierung zu verabschieden.
Seit Juli 2020 ist das revidierte Gleichstellungsgesetz (GlG) in Kraft. Dieses sieht vor, dass Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten die Löhne ihrer Mitarbeitenden auf unerklärte Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern überprüfen müssen. Travail.Suisse begleitet die Umsetzung der Lohnanalysen seit deren Inkrafttreten im Rahmen des Projekts RESPECT8-3.CH. Dank dieses Projekts konnte eine grosse Menge an Daten zu knapp 200 Unternehmen mit rund 500'000 Angestellten gesammelt werden: Resultate der Lohnanalysen, Revisionsberichte und Kommunikationsmeldungen an die Angestellten (und Aktionärinnen und Aktionäre). Diese Daten sind nicht öffentlich zugänglich und wurden Travail.Suisse von den Unternehmen auf vertraulicher Basis zugestellt.
Lücken und Probleme bei der Umsetzung der Lohnanalysen
«Diese umfangreiche Datensammlung erlaubt eine vertiefte Beurteilung der Anwendung der Lohnanalysen gemäss Gleichstellungsgesetz. Die Evaluation zeigt deutlich, dass erhebliche Lücken und Probleme bei der Umsetzung des Gesetzes bestehen», hält Adrian Wüthrich, Präsident von Travail.Suisse fest. Auffällig ist, dass bei allen drei Schritten des vorgeschriebenen Analyseprozesses (Analyse der Löhne, Revision der Analyse, Kommunikation der Resultate an die Angestellten) Mängel bestehen. Die gravierendsten Probleme sieht Travail.Suisse u.a. in folgenden Bereichen:
- Die Kommunikation an die Angestellten erfolgt oft zurückhaltend, intransparent oder irreführend. Die meisten Angestellten erfahren nie, wie hoch die Lohndiskriminierung in ihrem Unternehmen tatsächlich ist.
- Es ist unklar, welche Unternehmen die Lohnanalysen wiederholen müssen, ausserdem müssen die Löhne selbst bei hoher Diskriminierung nicht angepasst werden. Da die Einhaltung des Gesetzes zudem nicht kontrolliert wird, beenden die allermeisten Unternehmen den Prozess der Lohnüberprüfung ohne weitere Folgen.
- Zertifizierungsunternehmen, die teilweise sowohl die Lohnanalysen als auch deren Revision vornehmen, bieten Zertifikate an, welche den Unternehmen die Einhaltung der Lohngleichheit attestieren – unabhängig von den Resultaten der Lohnanalysen. Die Durchführung von Lohnanalysen wird dadurch in erster Linie zum Geschäft.
- Die Lohnanalysen betreffen nicht einmal ein Prozent aller Unternehmen und mit 44% nur eine Minderheit der Schweizer Arbeitnehmenden.
Forderung nach Revision des Gleichstellungsgesetzes
Travail.Suisse erachtet die Pflicht zur Durchführung von Lohnanalysen, wie sie im geltenden Gleichstellungsgesetz gefordert wird, als Fortschritt für die Gleichstellung. Léonore Porchet, Vizepräsidentin von Travail.Suisse hält jedoch fest: «Die in der Evaluation aufgezeigten Lücken führen letztlich dazu, dass die Lohndiskriminierung nur von vorbildlichen Unternehmen gewissenhaft kontrolliert wird. Massnahmen zur Reduktion der Lohndiskriminierung werden im Gesetz nicht einmal erwähnt. Deshalb fordert Travail.Suisse eine grundlegende Anpassung des Gleichstellungsgesetzes.»
- Kontrolle des Gesetzes: Das aktuelle Gesetz sieht keinerlei Kontroll- und Sanktionsmechanismen vor. Solche müssen zwingend eingeführt werden, da das Gesetz ansonsten ein zahnloser Papiertiger bleibt.
- Effektive Reduktion der Lohndiskriminierung: Unternehmen, die eine Lohndiskriminierung aufweisen, sollten in der Sozialpartnerschaft oder mit einer Vertretung der Angestellten wirksame Massnahmen zur Reduktion ergreifen müssen.
- Wiederholung der Analysen: Alle Unternehmen sollen die Lohnanalysen alle vier Jahre durchführen müssen – eine einmalige Überprüfung der Löhne ist wenig zielführend. Die Sunset-Klausel, welche die Pflicht zur Lohnanalyse ab dem 1. Juli 2032 automatisch aufheben soll, muss gestrichen werden.
- Lohnanalysen auch für mittelgrosse Unternehmen: Die aktuelle gesetzliche Bestimmung betrifft weniger als 1 Prozent aller Unternehmen. Um eine breitere Wirkung zu erzielen, müssen Lohnanalysen für alle Unternehmen ab 50 Mitarbeitenden verpflichtend sein.
- Bessere Kommunikation: Die Unternehmen sollen ihre Mitarbeitenden transparent über die Resultate informieren müssen. Dafür braucht es klarere Anforderungen in Bezug auf die Kommunikation.
Übergabe der Evaluation an die Bundespräsidentin
Eine Delegation von Travail.Suisse und seinen Verbänden wird den Evaluationsbericht heute Mittag an Bundespräsidentin Viola Amherd übergeben. Der heutige Internationale Tag der Frau soll den Anstoss geben, das lückenhafte Gleichstellungsgesetz so rasch wie möglich zu revidieren.
Fotos und Downloads
Fotos der Berichtübergabe sind ab ca. 12.30h hier verfügbar: Fotos Berichtübergabe. Bildmaterial von Keystone-SDA steht voraussichtlich im Laufe des Nachmittags ebenfalls zur Verfügung.