Betreuende Angehörige – wagen wir eine ehrgeizige nationale Politik!
Was haben die Stadt Bern, der Kanton Luzern, das Bundesamt für Zivildienst und Québec gemeinsam? Auf diesen vier institutionellen Ebenen haben Politik und Verwaltung Angebote für betreuende Angehörige getestet und lanciert, um erstere zu entlasten. Im Rahmen der Tagung 2023 der Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung IGAB wurde unter anderem das Beispiel Québec vorgestellt. Diese Erfahrungen sind Inspirationsquellen für die Schweiz, die über keine nationale Politik für betreuende Angehörige verfügt.
An der von der Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung IGAB am 6. Juni organisierten Tagung stellten acht Referentinnen und Referenten Projekte, Gesetzesentwürfe und Massnahmen vor. Alle Referentinnen und Referenten betonten die Elemente, die zum Erfolg der jeweiligen Vorgehen geführt haben, sowie die Herausforderungen, die noch zu bewältigen sind. So boten die Präsentationen den Teilnehmenden die Möglichkeit, aus den Erfahrungen zu lernen und sich inspirieren zu lassen. Nachfolgend werden vier der vorgestellten Projekte und Massnahmen näher vorgestellt.
Betreuungsgutsprachen in der Stadt Bern
Im Rahmen eines Pilotprojekts wurde in der Stadt Bern die Einführung von Betreuungsgutsprachen getestet, Diese haben zum Ziel, dass die Betroffenen länger zu Hause wohnen bleiben können und die Angehörigen, die sie im Alltag unterstützen, entlastet werden. Das Pilotprojekt konnte in ein von der Stadt angebotenes Regelangebot überführt werden. Dies war nur möglich dank der grossen Anstrengungen, das Angebot bekannt zu machen, um die Zielgruppe sicher erreichen zu können. Auch die Zusammenarbeit mit einem qualifizierten Dienstleister, der sich mit ambulanter Pflege und Gesundheitsförderung auskennt – in diesem Fall Pro Senectute – erwies sich als unerlässlich für den Erfolg des Projekts.
Eine grosse Herausforderung waren die langen politischen Prozesse, die es zu berücksichtigen galt, um die gesetzlichen Grundlagen für ein solche Angebots zu schaffen. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, einen Leistungskatalog zu definieren, der den tatsächlichen Bedürfnissen der Begünstigten entspricht.
Auch die Rolle der betreuenden Angehörigen war entscheidend. Sie motivierten ihre Angehörigen, sich zu melden, und waren manchmal bei der Bedarfsermittlung anwesend. Auch unterstützten sie bei der Beantragung und der Abrechnung der Leistungen. Die betreuenden Angehörigen wurden also einerseits gefordert, erhielten aber im Gegenzug eine echte Entlastung. Dieses Pilotprojekt wurde von der Berner Fachhochschule evaluiert und wird ab Sommer 2023 in ein reguläres Angebot überführt.
Eine jährliche Anerkennungszulage im Kanton Luzern
Im Kanton Luzern wurde eine Anerkennungszulage (jährlich 800 Franken) für betreuende Angehörige eingeführt. Ausserdem können über Gutscheine in der Höhe von jährlich 1200 Franken Entlastungsangebote in Anspruch genommen werden. Die Entschädigungen werden der unterstützten Person über das System der Hilflosenentschädigung der AHV oder der IV ausbezahlt. Diese Gesetzesänderung wurde durch eine von der Zentrumspartei lancierte Volksinitiative ermöglicht, die ihrerseits einen Steuerabzug verlangte. Der Grosse Rat war von der Notwendigkeit überzeugt, die Anerkennung zu verbessern, jedoch auf anderem Wege, und beauftragte die Regierung mit der Ausarbeitung eines Gegenvorschlags, der im Frühjahr dieses Jahres vom Parlament verabschiedet wurde.
Hier war entscheidend, dass über die eingereichte Initiative politisch Druck aufgebaut werden konnte. Die ursprünglich Initiative, die zugunsten des Gegenvorschlags zurückgezogen wurde, trug dazu bei, dass die Frage der Angehörigenbetreuung im Parlament und später in der Kantonsregierung diskutiert wurde. Auch die Nutzung eines bereits bestehenden Instruments für die Auszahlung der Zulagen war ein Erfolgsfaktor.
Auf Seite der Herausforderungen ist in Luzern ähnliches zu beobachten wie in Bern: Die politischen Prozesse sind langwierig. In diesem Fall dauerte es sechs Jahre von der Lancierung der Initiative (2018) bis zum Inkrafttreten der Massnahmen, das für 2024 geplant war.
Entlastung betreuender Angehöriger durch Zivildienstleistende
Beim Bundesamt für Zivildienst geht ein Pilotprojekt mit dem Titel «Ambulante Betreuung» zu Ende. Der Bundesrat wollte prüfen, ob und wie der Zivildienst mit ambulanten Einsätzen dazu beitragen kann, die schwierige Situation von betreuenden Angehörigen, die oft überlastet sind und unter Erschöpfung leiden, zu entschärfen. Die Zivildienstleistenden wurden von anerkannten Einrichtungen eingesetzt, dabei wurden auch neue Einsatzformen wie Teilzeit- oder Stundeneinsätze getestet.
Erfolgsfaktoren waren hier der Einbezug und die kontinuierliche Zusammenarbeit mit den betroffenen Einsatzbetrieben und anderen interessierten Organisationen. Die sorgfältige Auswahl der Zivis in Bezug auf ihre Motivation, ihren persönlichen Hintergrund und ihre Qualifikationen war ebenfalls von Bedeutung. Schliesslich erforderte dieses Pilotprojekt von allen Beteiligten ein hohes Mass an Flexibilität und Pragmatismus.
Das IT-System und die gesetzlichen Anforderungen waren hingegen weniger flexibel, was eine Herausforderung darstellte. Ebenso erwies es sich als schwierig, geeignete Zivildienstleistende zu finden. Auch hier ist eine gute Zusammenarbeit mit den vor Ort tätigen Organisationen unerlässlich.
Eine nationale Politik für betreuende Angehörige in Québec
In Québec, dessen Bevölkerungsgrösse jener der Schweiz entspricht, erkennt ein erster Aktionsplan der Regierung für betreuende Angehörige deren Engagement an, um sie besser unterstützen zu können. Der Plan enthält 61 Massnahmen und Aktionen zur Umsetzung der nationalen Politik für betreuende Angehörige. Der Plan beschreibt die zu erreichenden Ziele, die zu ergreifenden Massnahmen sowie die beteiligten Ministerien, Organisationen und Partner. Ein zweiter Plan wird bereits vom Gesundheitsministerium vorbereitet, das auf der Grundlage regelmässig aktualisierter wissenschaftlicher Erkenntnisse eng mit einem Ausschuss von Partnern zusammenarbeitet.
Der von Benoît Bouvier, dem Direktor von Proche Aidance Québec, an der IGAB-Tagung vorgestellte Aktionsplan erstreckt sich über fünf Jahre (2021–2026), und ist mit über 200 Millionen kanadischen Dollar veranschlagt. Die rund 60 Massnahmen sind in vier Bereiche unterteilt: Anerkennung und Selbstanerkennung von betreuenden Angehörigen, Informationsaustausch und Förderung der zur Verfügung gestellten Ressourcen, Entwicklung von Dienstleistungen für betreuende Angehörige und schliesslich Entwicklung von Umgebungen, die die Aufrechterhaltung und Verbesserung der Lebensbedingungen von betreuenden Angehörigen (insbesondere in finanzieller Hinsicht) begünstigen. Die Massnahmen sind sehr vielfältig und betreffen die Sensibilisierung, Information, Ausbildung, aber auch die finanzielle Unterstützung von gemeinschaftlichen Organisationen, die Dienste und Leistungen für betreuende Angehörige anbieten, sowie die Zusammenarbeit zwischen allen Partnern durch die Schaffung von Komitees und Arbeitsgruppen. Eine herausragende Massnahme ist die Einrichtung eines Observatoriums für betreuende Angehörige in Québec, das die Forschung und den Wissenstransfer unterstützen und die spezifischen Bedürfnisse von betreuenden Angehörigen mit unterschiedlichem soziokulturellem Hintergrund dokumentieren soll. Dieses Observatorium erfasst auch vielversprechende Praktiken und bewertet, ob die Ziele der nationalen Politik erreicht werden.
Um ein solches Ergebnis zu erzielen, haben sich die betreuenden Angehörigen über die Dachorganisation Proche Aidance Québec zusammengeschlossen, eine Dachorganisation, die rund 130 Organisationen stark ist. Dies war ein entscheidender Erfolgsfaktor. Die Dachorganisation war an den verschiedenen parlamentarischen Konsultationen sowie an der Ausarbeitung der Politik und des Aktionsplans der Regierung beteiligt. Die persönliche Beteiligung prominenter Persönlichkeiten auf der politischen Bühne Québecs machte den Unterschied.
Die festgestellten Herausforderungen beziehen sich auf die unerlässliche Zusammenarbeit aller öffentlichen und privaten Akteure, darunter auch die gemeinschaftlichen Einrichtungen und Verbände. Die gerechte Verteilung der Finanzmittel ist ebenfalls eine Schwierigkeit, die es zu berücksichtigen gilt.
Plädoyer für eine Vision und eine Politik der Angehörigenbetreuung in der Schweiz
Das Beispiel Québec zeigt einen möglichen Weg für die Schweiz auf. In unserem Land sind die Kantone und Gemeinden für die Gesundheits- und Sozialpolitik zuständig. Regelmässig werden sektorale Projekte ins Leben gerufen. Es ist offensichtlich, dass die föderalistische Struktur unseres Landes und das Subsidiaritätsprinzip die Verabschiedung einer nationalen Politik zur Angehörigenbetreuung erschweren. Die Angehörigenbetreuung betrifft Personen sehr unterschiedlichen Alters und persönlicher Situation, was die Sache kompliziert macht. Die meisten Leistungen für betreuende Angehörige sind indirekt und werden über die Sozialversicherungen, die einen «risikobasierten» Ansatz verfolgen (Invalidität, Krankheit X oder Y, unzureichende Ressourcenbedingungen, Erwerbsausfall usw.), an die von Krankheit oder Behinderung betroffenen Personen ausgezahlt. In der Schweiz wurde bisher nur unter Berücksichtigung des beruflichen Risikos der betreuenden Angehörigen und unter einem rein wirtschaftlichen Gesichtspunkt (der seit 2021 gewährte bezahlte Urlaub) argumentiert, ohne sich um die Solidarität innerhalb der gesamten Gesellschaft zu kümmern.
Im Parlament sind sektorielle Anpassungen im Gange (z.B. die mögliche Auszahlung des Assistenzbeitrags der IV an eine Familienperson, die mit der Motion Lohr seit über zehn Jahren im Parlament diskutiert wird), aber es gibt keine Gesamtvision, geschweige denn eine starke und harmonisierte nationale Politik zur Förderung der betreuenden Angehörigen. Die betreuenden Angehörigen werden indirekt adressiert, zum Beispiel über die Annahme eines Impulsprogramms zur Verhinderung von Gewalt gegen ältere Menschen, wie es die Luzerner Mitte-Nationalrätin Ida Glanzmann in einer Motion vorschlägt, die am 13. Juni vom Plenum angenommen wurde. Wenn der Ständerat demselben Weg folgt, dann sollte dieses Programm einen Ausbau des Angebots und der Qualität vorsehen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Misshandlungen, unter denen ältere Menschen leiden, auch von überforderten betreuenden Angehörigen ausgehen und nicht nur von Fachleuten und dem Pflegepersonal.
Bisher gibt es in der Schweiz keinen einheitlichen Rechtsstatus für betreuende Angehörige. Diese Frage wird im Juli von der Gesundheitskommission des Ständerats diskutiert werden, im Rahmen der Behandlung der parlamentarischen Initiative Maret. Die Diskussion könnte im Hinblick auf die Verabschiedung einer nationalen Politik zur Angehörigenbetreuung hilfreich sein.
Einige Lehren aus der IGAB-Tagung
Folgende Erkenntnisse lassen sich aus der IGAB-Tagung ziehen:
- Der Schweiz fehlt eine nationale Politik der Angehörigenbetreuung mit einem Aktionsplan, konkreten Massnahmen, die alle Akteure einbeziehen, sowie einem entsprechenden Budget;
- Die Einbeziehung der Akteure vor Ort ist von Anfang an unerlässlich, wenn es um die Entwicklung von Angeboten oder Massnahmen für betreuende Angehörige geht;
- Eine Koordination zwischen allen privaten und öffentlichen Akteuren in einer Region ist notwendig, unabhängig von der institutionellen Ebene, aber auch zwischen Akteuren derselben Ebene (z. B. zwischen Kantonen);
- Die Finanzierung der Leistungen und des Betriebs von Non-Profit-Organisationen muss eines der Ziele einer nationalen oder kantonalen Politik der Angehörigenbetreuung sein;
- Das regelmässige Monitoring der betreuenden Angehörigen muss finanziert und organisiert werden, wie dies auch im Programm zur Förderung von Angeboten zur Entlastung betreuender Angehöriger 2017-2020 des BAG empfohlen wurde.
Die IGAB ist die Dachorganisation der betreuenden Angehörigen in der Schweiz. Sie wurde 2019 auf Initiative des Schweizerischen Roten Kreuzes, der Krebsliga, Pro Infirmis, Pro Senectute und Travail.Suisse gegründet. Sie will den betreuenden Angehörigen auf Bundesebene Gehör verschaffen und setzt sich für ihre Interessen ein.