Inklusiv weiterbilden: Erfolgsfaktoren und Hürden in der Umsetzung
Studien zeigen, dass die Schweiz trotz Verpflichtungen und nachgewiesenem Bedarf noch einen weiten Weg zu gehen hat, bevor eine inklusive Weiterbildungslandschaft erreicht ist. Die Evaluation eines Travail.Suisse Formation-Pilotprojekts fördert die wichtigsten Herausforderungen und Erfolgsfaktoren für inklusive Weiterbildung zutage.
Gründe für unterdurchschnittliche Weiterbildungsteilnahme
Obschon die rechtlichen Verpflichtungen der Schweiz die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, auch in der Weiterbildung vorschreibt, zeigen aktuelle Studien, dass die Weiterbildungsbeteiligung von Menschen mit Behinderungen nach wie vor unterdurschnittlich ist. Der im September 2023 veröffentlichte Inklusionsindex von Pro Infirmis spricht eine klare Sprache: Zwei von drei Menschen mit Behinderungen in der Schweiz fühlten sich in ihren Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten eingeschränkt. Sie erwähnten unter anderem folgende Hürden (Pro Infirmis 2023, S. 18):
- finanzielle Gründe
- nicht machbare Anreise
- nicht angepasste Lernbedingungen
- Angst, nicht zu genügen oder vor sozialer Ausgrenzung
- fehlende barrierefreie Zugänge
- fehlende Assistenz
Diese Hürden machen deutlich, dass Weiterbildungsanbieterinnen und -anbieter eine Schlüsselrolle spielen, wenn die inklusive Weiterbildung vorangetrieben werden soll. Dies gilt insbesondere bei der Anpassung der Lernbedingungen oder barrierefreien Zugängen. Aber auch der Abbau von (vermeintlich) individuellen Hemmungen wie der «Angst, nicht zu genügen» könnten durch ganzheitlich inklusive Weiterbildungsangebote gefördert werden. Bei den finanziellen Gründen hingegen sind andere Akteurinnen und Akteure angesprochen. So steht etwa eine öffentliche Unterstützung von inklusiven Erwachsenenlernangeboten zur Diskussion, sei es auf Subjekt- oder Angebotsebene.
Das Pilotprojekt «Weiterbildung inklusiv»
Im Pilotprojekt, das TSF zusammen mit dem Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband SBV und dem Verband der Schweizerischen Volkshochschulen VSV umsetzte, wurden in einem ersten Schritt Mitarbeitende von drei Volkshochschulstandorten in die Umsetzung von barrierefreier Weiterbildung eingeführt und geschult. Danach wurden blinde und sehbehinderte Testpersonen an diese Standorte vermittelt, um zu testen, ob die geübten Anpassungen für alle Beteiligten durchführbar, ausreichend und zufriedenstellend waren. Für die Evaluation des Pilotprojekts wurden die Perspektiven aller Beteiligten sowohl bei der Einführungsschulung als auch während der Testphase berücksichtigt.
Erfolgsfaktoren und Stolpersteine einer inklusiveren Weiterbildung
Auf der Basis der Erfahrungen, welche bei der Umsetzung des Pilotprojekts und den anschliessenden Schulungen und Beratungen gemacht werden konnten, lassen sich Erfolgsfaktoren, aber auch Stolpersteine für eine inklusivere Weiterbildung auf System- und Organisationsebene sowie auf individueller Ebene festhalten.
Auf Systemebene verortet TSF eine Herausforderung in den fehlenden Rahmenbedingungen für inklusive Weiterbildung: Zurzeit sind private Weiterbildungsinstitutionen in der Schweiz nicht zur Barrierefreiheit verpflichtet, während Barrierefreiheit für private Dienstleistungsangebote in der EU ab Mitte 2025 verpflichtend wird (vgl. European Accessibility Act 2019). In der Schweiz ist aktuell die Revision Behindertengleichstellungsgesetzes in Arbeit, wobei auch zur Diskussion steht, dass auch private Dienstleistungsanbietende zur Barrierefreiheit verpflichtet sind. Eine solche Anpassung wäre zentral, um die Rahmenbedingungen zu verbessern. Weiterbildungsinstitutionen – auch private und halbprivate – erhalten derzeit zudem keine finanzielle Unterstützung für Massnahmen im Bereich der Barrierefreiheit, zumal der diesbezügliche Gleichstellungsartikel im Weiterbildungsgesetz lediglich auf Bestrebungen abzielt und keinen Umsetzungs- oder Fördercharakter aufweist. Solange Inklusion allein vom guten Willen von Einzelpersonen, engagierten Kursleitenden und Administrationspersonal abhängt, kann sie auf Systemebene nicht vorangetrieben werden. Selbst wirtschaftliche Argumente für bessere Accessibility wie die Erhöhung der Nutzungsfreundlichkeit, Innovation und Reichweite lösen ohne entsprechende Vorgaben wenig Resonanz aus. Gerade bei kleinen Anbieterinnen und Anbietern sind die Ressourcen, die für den Initialaufwand nötig wären (etwa bei der Einrichtung einer barrierefreien Webseite), begrenzt. Häufig werden von Institutionsleitungen andere Herausforderungen wie Ressourcenmangel und Digitalisierung als prioritär angesehen, so dass die Inklusionsmassnahmen bedauerlicherweise wiederholt vertagt werden.
Auf Organisations- und auf individueller Ebene legt die ständige Frage nach Aufwand und Ertrag zusätzliche Stolpersteine in den Weg: Es fehlt an einer breit verankerten inklusiven Vision von Weiterbildung, die für alle Teilnehmenden zugänglich ist. Im Zuge der Individualisierung, der zunehmenden Ausrichtung auf immer diversere Bedürfnisse der Teilnehmenden erstaunt es, dass der Einbezug von Menschen mit Behinderungen als zu aufwändig betrachtet wird und deren Inklusion und Teilhabe nicht längst ins allgemeine Mindset Einzug gefunden hat. Wenn Bildungsinstitute Inklusion in die Unternehmensstrategie und -kultur aufnehmen, so ist ein grundlegender Schritt getan. Zudem ist es wichtig, Administrationspersonal und Kursleitende sowohl technisch (Barrierefreiheitsanpassungen) als auch sozial (mit dem Ziel, Berührungsängste abzubauen) zu stärken, damit sie vom Erstkontakt an eine inklusive Weiterbildung anbieten und Offenheit für Teilnehmende mit (Seh-)Behinderung signalisieren können. Sobald diese Basis vorhanden ist, ist eine positive Erfahrung für alle Beteiligten möglich. Eine zusätzliche Begleitung mit fachlicher Unterstützung (z.B. durch Beratung oder Intervision), bei der Einzelfallfragen thematisiert werden können, kann sich zusätzlich nachhaltig positiv auswirken. Wichtig wäre auch, dass das zunehmende Know-how in Bezug auf Teilnehmende mit besonderen Lernbedürfnissen gebündelt und gesichert wird, indem eine Ansprechperson oder Ansprechstelle für Lernende mit (Seh-)Behinderung definiert wird, die diesen internen Informationstransfer sicherstellt (vgl. TSF 2023, S. 4).
Auch auf Seiten der Menschen mit Sinnesbeeinträchtigung ist Sensibilisierung notwendig. Gerade weil Inklusion oftmals nicht ihrer Alltagsrealität entspricht und sie im Laufe ihrer Bildungslaufbahn auch Exklusionserfahrungen gemacht haben, sind Hemmungen abzubauen. Die enge Zusammenarbeit mit ihren Interessenverbänden hilft, Vertrauen aufzubauen.
Positiv formuliert gelten somit (finanzielle) Ressourcen, klare Rahmenbedingungen und Vorgaben sowie eine inklusive Weiterbildungsvision und Inklusionskompetenzen als wichtige Erfolgsfaktoren. Darüber hinaus geht es darum, mit einem offenen Mindset aufeinander zuzugehen. Wer bereit ist, einen initialen Mehraufwand zur Umsetzung von Inklusion zu betreiben, verbessert seine Prozesse und Angebote nachhaltig.
→ Dieser Artikel basiert auf einem aktuellen Beitrag im Magazin EP – Education Permanente des SVEB. Dieser ist am 28. Mai 2024 auf der Webseite von Travail.Suisse Formation www.ts-formation.ch nachzulesen.
Referenzen
- European Accessibility Act: Directive (EU) 2019/882 of the European Parliament and of the Council of 17 april 2019 on the accessibility requirements for products and services (Text with EEA relevance), PE/81/2018/REV/1.
- Maibach, Noémie; Paz, Daphna (2024): Inklusiv weiterbilden: Erfolgsfaktoren und Hürden in der Umsetzung. EP Schweizerische Zeitschrift für Weiterbildung, N°1 2024
- Pro Infirmis (2023): Inklusionsindex 2023: Studie zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz.
- Travail.Suisse Formation TSF (2020): Kriterienliste zur Verbesserung des Zugangs von blinden und sehbehinderten Menschen zur öffentlichen Weiterbildung
- Travail.Suisse Formation TSF (2023): Leitfaden Weiterbildung inklusiv. Weiterbildung für Menschen mit Hörbehinderungen zugänglich gestalten