Weiterbildung – Welche Rolle spielen die Arbeitgebenden?
Unter dem Titel «Weiterbilden, aber gezielt» hat Avenir Suisse eine Studie zur Weiterbildung in der Schweiz herausgegeben (1) . Zur Förderung von Niedrigqualifizierten favorisiert sie vom Staat abgegebene Weiterbildungsgutscheine. Leider verpasst es die Studie aber, die Rolle und Verantwortlichkeiten der Arbeitgebenden in Bezug auf die Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden zu benennen. Aus Sicht von Travail.Suisse, dem unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, wird damit eine Chance vergeben.
Die Studie von Avenir Suisse hält zu Recht fest, dass sich der Bildungsunterschied zwischen Hoch- und Niedrigqualifizierten durch Weiterbildung nicht verkleinert, sondern im Gegenteil verschärft. Durch mangelnde Weiterbildung besteht gleichzeitig die Gefahr, dass Personen den Anschluss an die Arbeitswelt verlieren. In solchen Fällen ist es aus Sicht von Avenir Suisse angezeigt, dass der Staat die Weiterbildung unterstützt. Dabei favorisiert Avenir Suisse die Abgabe von Bildungsgutscheinen oder die Einführung von Weiterbildungskonten. Um die Mitnahmeeffekte zu minimieren – also möglichst zu verhindern, dass auch Weiterbildungsmassnahmen von staatlicher Finanzierung profitieren, die ansonsten anderweitig finanziert worden wären –, ist der «Anspruch auf eine kleine Gruppe zu beschränken, zum Beispiel auf die rund 530 000 Personen zwischen 25 und 64 Jahren ohne nachobligatorische Bildung». Diese Anspruchsgruppe sollte mittels einer Einkommensgrenze weiter eingeschränkt werden, «damit vor allem jene profitieren, bei denen die Weiterbildungsteilnahme an den finanziellen Mitteln scheitert.»
Soweit kann Travail.Suisse der Argumentation von Avenir Suisse folgen und sie auch weitgehend unterstützen. Es macht daher politisch Sinn, die für die Sommersession traktandierte Motion 19.3697 «Einführung von Weiterbildungsgutscheinen für gering qualifizierte Personen» zu unterstützen.
Fehlende Rollenklärung in Bezug auf die Arbeitgebenden
Die Studie – so gut sie im Grundsatz ist – leidet aber unter einem mangelnden Blick auf die Verantwortung der Arbeitgebenden. Im Bericht wird das hohe Engagement der Arbeitgebenden gelobt, obwohl dies gerade im Hinblick auf die Niedrigqualifizierten nicht stimmt. Gemäss Abbildung 6 «Unterschiedliche Weiterbildungspartizipation nach Bildungsstand» profitieren gerade einmal 31% der Arbeitnehmenden ohne nachobligatorische Bildung von einer durch den Arbeitgeber unterstützten Weiterbildung. Bei Personen mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II liegt der Anteil bereits bei 56% und bei Arbeitnehmenden mit einem Tertiärabschluss sogar bei 75%. Man kann diese unterschiedliche Weiterbildungsbeteiligung natürlich auf die mangelnde Bereitschaft der Niedrigqualifizierten zur Weiterbildungsteilnahme zurückführen. Aber wird man damit der Situation gerecht? Wir meinen: Nein! Die Teilnahme von Niedrigqualifizierten an Weiterbildungsmassnahmen hängt auch von den Arbeitgebenden ab, das heisst von der Wahrnehmung ihrer «Fürsorgepflicht» gegenüber allen Arbeitnehmenden. Dieser gesetzliche Begriff kommt übrigens in der Avenir Suisse-Studie nicht vor. Die Situation der Niedrigqualifizierten kann aber nur verbessert werden, wenn nicht nur der Staat, sondern auch die Arbeitgebenden vor dem Hintergrund ihrer Fürsorgepflicht vermehrt in die Niedrigqualifizierten investieren. Was müsste dafür konkret getan werden? Es wäre schon viel erreicht, wenn die Arbeitgebenden ihre Mitarbeitenden auf entsprechende nationale Projekte hinweisen, sie zur Teilnahme an diesen Projekten motivieren und dabei unterstützen würden. Dazu gehören folgende Projekte:
- Förderung der Grundkompetenzen (2): Bei diesem Angebot setzen sich der Bund und die Kantone dafür ein, dass Erwachsene bestehende Grundkompetenzen erhalten und fehlende erwerben können. Die Arbeitgebenden können diesbezüglich einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie ihre niedrigqualifizierten Mitarbeitenden auf diese Kurse hinweisen und ihnen die nötige Zeit zur Teilnahme gewähren;
- Förderschwerpunkt «Einfach besser!... am Arbeitsplatz» (3) : Dieser Förderschwerpunkt des Bundes unterstützt u.a. Betriebe bei ihrer firmeninternen Weiterbildung. Es werden Massnahmen zum Erwerb von arbeitsplatzbezogenen Grundkompetenzen der Mitarbeitenden unterstützt. Dieser Förderschwerpunkt ist vollständig auf die Arbeitgebenden angewiesen. Die Umsetzung ist nur möglich, wenn Betriebe dieses Projekt für ihre niedrigqualifizierten Mitarbeitenden anbieten.
- Viamia: Berufliche Standortbestimmung und Beratung für Personen über 40 (4): Eine zielgerichtete Weiterbildungsplanung ist insbesondere dann möglich, wenn im Vorfeld dazu eine berufliche Standortbestimmung vorgenommen wird. Diese Standortbestimmungen sind für Personen über 40 seit dem 01.01.2021 in den meisten Kantonen gratis zugänglich. Es wäre an den Arbeitgebenden, insbesondere ihre niedrigqualifizierten Mitarbeitenden auf dieses Angebot hinzuweisen und ihnen anzubieten, allfällige Weiterbildungsmassnahmen zeitlich und finanziell zu unterstützen. So könnte die Teilnahme an der Weiterbildung von Niedrigqualifizierten erhöht werden.
Auch der Vorschlag von Avenir Suisse, staatliche Weiterbildungsgutscheine für Niedrigqualifizierte einzuführen, kann letztlich nur erfolgreich sein, wenn die Arbeitgebenden die durch die Bildungsgutscheine ermöglichten Weiterbildungen der Niedrigqualifizierten unterstützen, zum Beispiel durch die Gewährung von entsprechender Arbeitszeit. Kurz zusammengefasst: Staatliche Regelungen zur Erhöhung der Teilnahme von Niedrigqualifizierten an der Weiterbildung sind gut und notwendig. Wirklich erfolgreich können sie aber nur sein, wenn die Arbeitgebenden ihren Beitrag bei der Umsetzung leisten. Diese Dimension fehlt leider in der Studie von Avenir Suisse gänzlich.
Travail.Suisse Formation hat eine Studie gestartet zur Frage, wie Gesamtarbeitsverträge die Teilnahme von Niedrigqualifizierten an Weiterbildungsmassnahmen erhöhen können. Aktuell werden dazu die GAV’s auf ihre Weiterbildungsregelungen untersucht. Anschliessend soll untersucht werden, welche Weiterbildungsregelungen den Zugang zur Weiterbildung von Niedrigqualifizierten verbessern. Ab Ende 2022 sollen die Ergebnisse mit verschiedenen paritätischen Kommissionen diskutiert werden.
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Quellen:
(1): Avenir-Suisse
(2): SBFI
(3): SBFI
(4): Viamia