Bildungsbericht belegt Wert der Höheren Berufsbildung und zeigt Handlungsbedarf auf
Der vierte «Bildungsbericht Schweiz» bietet wiederum eine umfassende Analyse für das Bildungssystem der Schweiz. Für den Bereich der Höheren Berufsbildung bekräftigt er einerseits den grossen Wert für die Absolventinnen und Absolventen, zeigt aber auch den schleichenden Bedeutungsverlust. Für Travail.Suisse ist die Stärkung der Höheren Berufsbildung eine Daueraufgabe, um der Chancengerechtigkeit gerecht zu werden und der soziodemografischen Selektion entgegen zu treten.
Die Höhere Berufsbildung (HBB) ist ein entscheidender Bereich des schweizerischen Bildungssystems. Beinahe die Hälfte aller Abschlüsse auf Tertiärstufe werden in der Höheren Berufsbildung erteilt – rund 25'000 Arbeitnehmende erhalten so pro Jahr einen tertiären Bildungsabschluss und stehen dem Arbeitsmarkt als Spezialistinnen und Spezialisten zur Verfügung. Der Bildungsbericht weist nach, dass die Absolventinnen und Absolventen der Höheren Berufsbildung bezüglich der Integration in den Arbeitsmarkt überdurchschnittlich erfolgreich sind. So lag 2020 die Erwerbslosenquote bei 1.4 Prozent, während sie in der Vergleichsgruppe der 25-39-Jährigen bei etwa 5 Prozent lag. Auch die Einkommenseffekte durch das Erreichen eines Abschlusses der HBB wird in etlichen Studien äusserst positiv beurteilt, auch wenn der direkte Zusammenhang nicht einfach zu belegen ist. Interessant ist wiederum, dass potenzielle Studierende die guten Lohnperspektiven nach einem HBB-Abschluss von allen Bildungsabschlüssen am stärksten unterschätzten.
Eine weitere klare Erkenntnis aus dem Bildungsbericht lässt sich in Bezug auf die Selektionseffekte ziehen. Während sich bei den Eintritten an die Universitäten sehr starke soziodemografische Selektionseffekte zeigen – heisst die Kinder von Eltern mit Universitätsabschluss sind deutlich übervertreten – trifft dies bei der HBB deutlich weniger zu. Auffällig ist dagegen die starke Geschlechterkonzentration in den einzelnen Bildungsgängen. Während der Frauenanteil in der HBB gesamthaft bei etwa einen Drittel liegt, beträgt er in den Bereichen «Informations- und Kommunikationstechnologie» nur rund 10 Prozent, im Bereich «Gesundheit und Sozialwesen» hingegen rund drei Viertel.
Entwicklung stabil, aber relativer Bedeutungsverlust gegenüber den Fachhochschulen
Für Travail.Suisse besitzt die Höhere Berufsbildung grösste Wichtigkeit. Einerseits bietet sie Arbeitnehmenden ohne Maturität die Chance auf eine tertiäre Ausbildung mit entsprechend positiven Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt, andererseits dient sie als attraktive Weiterbildungsmöglichkeit für eine Stärkung der beruflichen Grundbildungen. Wie der Bildungsbericht jetzt aufzeigt, ist die Entwicklung der Abschlüsse der Höheren Berufsbildung über die letzten Jahre stabil geblieben. Gleichzeitig haben aber die Abschlüsse bei den Fachhochschulen stark zugenommen, wodurch «der relative Anteil der Höheren Berufsbildung an allen tertiären Abschlüssen seit der Einführung der Fachhochschulen stetig kleiner wurde». Diese Entwicklung weise darauf hin, «dass nur die Hochschulen, insbesondere die Fachhochschulen, vom verstärkten Trend zu einer Tertiarisierung profitiert haben».
Handlungsbedarf zur Stärkung der Höheren Berufsbildung
Um die Höhere Berufsbildung zu stärken und ihren schleichenden Bedeutungsverlust zu stoppen, muss aus Sicht von Travail.Suisse an folgenden Punkten angesetzt werden:
- Klärung der Titelfrage: Einen wichtigen Anteil an der Attraktivität der Hochschulen insgesamt und der Fachhochschulen im Besonderen ist die grosse gesellschaftliche Akzeptanz und das Renommee der vereinheitlichten Bachelor- und Master-Abschlüsse. Aus Sicht von Travail.Suisse braucht es auch für den tertiären Berufsbildungsbereich solche ergänzenden Titel (Stichwort «professional bachelor»). Weiter ist es überaus stossend, dass die Fachhochschulen im nicht-reglementierten, non-formalen Weiterbildungsbereich Abschlüsse (CAS, DAS, MAS) anbieten, die sich stark an die formalen Abschlüsse anlehnen und teilweise direkt die Abschlüsse der HBB konkurrenzieren.
- Anpassung des finanziellen Engagements der öffentlichen Hand: Während die Subventionierung des Hochschulbereichs sehr weit fortgeschritten ist, hat die Höhere Berufsbildung das Nachsehen. Vieles wird den Arbeitnehmenden resp. deren Arbeitgebenden überlassen. Die direkten Kosten für eine Ausbildung an einer Fachhochschule sind beispielsweise deutlich tiefer als jene an einer höheren Fachschule. Gleichzeitig ist das Durchschnittsalter der Studierenden in der HBB deutlich höher, was die Problematik der indirekten Bildungskosten (Einkommensausfall als Folge der Pensenreduktion zugunsten einer Weiterbildung) verschärft. Aus Sicht von Travail.Suisse braucht es deutlich mehr direkte Unterstützung für Berufsleute, die sich für eine Ausbildung der Höheren Berufsbildung entscheiden.
- Stärkung der Attraktivität der Berufsbildung insgesamt: Die Höhere Berufsbildung ist insbesondere für Arbeitnehmende ohne Maturität von grosser Bedeutung. Wenn sich immer mehr Jugendliche für eine Ausbildung an einer allgemeinbildenden Schule (vor allem am Gymnasium) entscheiden, sinkt auch das Potenzial für die HBB. Aus Sicht von Travail.Suisse braucht es eine Stärkung der Berufsberatung, mehr Allgemeinbildung, Mobilitäts- und Modularisierungsmöglichkeiten während und nach der Lehre, um die Berufsbildung insgesamt attraktiver zu machen und die Grundlagen für die Bildungsentscheide der Jugendlichen zu optimieren. Ausserdem sind die Möglichkeiten für den Berufsabschluss für Erwachsene deutlich zu verbessern.
- Förderung diskriminierungsfreier Durchlässigkeit: Die Durchlässigkeit des Bildungssystem ist eine wichtige Voraussetzung zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit. Für Absolventinnen und Absolventen der Berufsbildung muss der Übertritt in den Hochschulbereich in gleichem Masse möglich sein wie umgekehrt. Soziodemografisch geprägte Selektion ist in allen Bereichen zu bekämpfen. Aus Sicht von Travail.Suisse braucht es klarere Regelungen für die Anrechenbarkeit von HBB-Abschlüssen an Bildungsgänge der Hochschulen, einen Erhalt der klaren Praxisorientierung bei den Fachhochschulen und eine verbesserte und geschlechterneutrale Berufswahl in frühen Klassen der Volkschule.