Noch mehr Spezialisten statt endlich genügend Hausärzte – so die Befürchtung von Universitäre Medizin Schweiz. Nun fordert der Verband eine stärkere Lenkung durch die Politik.
100 Millionen Franken für mehr Abschlüsse in der Medizin – der Betrag wurde mittlerweile bewilligt und bereits aufgeteilt auf die Hochschulen, welche neue Studienplätze schaffen wollen. Doch ist die Massnahme geeignet, den Mangel an Haus- und Kinderärzten zu lindern? Der Verband Universitäre Medizin Schweiz* hegt starke Zweifel. „Die Entscheidung für eine Fachrichtung fällt meist erst nach dem Studium“, gibt Henri Bounameaux zu bedenken. Deshalb bestehe in der Weiterbildungsphase mindestens so starker Handlungsbedarf, findet der Verbands-Vizepräsident.
Zwar begrüsst Universitäre Medizin Schweiz, dass die Anzahl jährlicher Abschlüsse von derzeit 1100 auf rund 1300 erhöht werden soll. Doch nicht alle Programme seien gleichermassen geeignet, die angehenden Ärzte für die Grundversorgung zu motivieren, bemängelt Bounameaux. Insbesondere das Vorgehen der ETH, welche ab diesem Herbst einen naturwissenschaftlich-technisch ausgerichteten Bachelorstudiengang in Medizin anbietet, hält der Dekan der medizinischen Fakultät Genf nicht für sinnvoll: „Das ist Verschwendung von Steuergeldern.“ Mit der Passerelle, welche Bachelor-Absolventen der ETH Lausanne an die Universitäten Genf und Lausanne führt, könne man bereits genügend naturwissenschaftlich orientierte Spezialisten ausbilden. Wichtig sei, dass die neuen Anbieter medizinischer Ausbildungen eng mit den bestehenden Fakultäten zusammenarbeiten. Nur so könne man unsinnige Konkurrenzsituationen vermeiden und die Qualität weiterhin gewährleisten.
Anreize falsch gesetzt
Kritisch äussert sich der Angiologe aber auch den eigenen Verbandsmitgliedern gegenüber: In den Universitätsspitälern gebe es zu viele mehrjährige Assistenzstellen für angehende Spezialisten. Viele davon eröffnen bald eine eigene Praxis, weshalb den Spitälern einheimisches Personal fehlt. Die auf ein Jahr befristeten Stellen, welche für künftige Grundversorger geeignet sind, seien dagegen knapp. Eine interne Arbeitsgruppe will sich nun mit dem Problem befassen. Hausärzte erlernen ihr Handwerk häufig in den Fachbereichen Innere Medizin, Dermatologie, Rheumatologie und Hals-Nasen-Ohrenmedizin. Zudem sollten sie sich Kenntnisse in einer Hausarztpraxis aneignen. Gemäss Bounameaux gibt es aber zu wenige Hausärzte, die gewillt sind, ihresgleichen auszubilden – obwohl sie damit ihre Nachwuchsprobleme lösen könnten. Auch Hausarzt-Praktikumsplätze für das Wahlstudienjahr kämen die Fakultäten teuer zu stehen. „Der Kanton müsste Hausärzte fürs Ausbilden bezahlen“, fordert Bounameaux. Denn während Assistenzärzte bereits genügend qualifiziert sind, um einen Lohn zu erhalten, seien Unterassistenten noch nicht so weit.
Eine gute Sache seien die Hausarztprogramme, die unterdessen sämtliche medizinischen Fakultäten anbieten, schreibt Universitäre Medizin Schweiz in ihrem Positionspapier. Doch weil dafür zu wenig Geld zur Verfügung steht, müssten Interessiert abgewiesen werden.
Geld und Zwang
Neben den finanziellen Begehren wünscht sich der Verbands-Vizepräsident mehr Gestaltungswille vonseiten der Politik. Erstens müsste endlich die Tarifordnung zugunsten der Hausärzte angepasst werden – auch wenn sich die besser verdienenden Spezialisten dagegen wehren. Zweitens brauche es Anreize für Arztpraxen in ländlichen Regionen – zum Beispiel auf Initiative von Gemeinden. Und drittens kann sich Henri Bounameaux sogar vorstellen, eine gewisse Dienstzeit in einer Hausarztpraxis nach dem Arztdiplom für obligatorisch zu erklären. „Das Studium ist gratis. Da wäre es nur recht, wenn die angehenden Ärzte der Gesellschaft etwas zurückgeben.“ Natürlich er sich bewusst, dass die Forderung in einem freiheitlichen Land schwierig zu verwirklichen ist.
*_Der Verband Universitäre Medizin Schweiz (unimedsuisse) wurde 2015 gegründet. Die fünf Universitätsspitäler sowie ihre dazugehörigen medizinischen Fakultäten (Basel, Bern, Genf, Lausanne, Zürich) haben sich darin zusammengeschlossen, um ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten._
Andrea Söldi, Journalistin BR