Ansätze zum Erhalt der Attraktivität der Berufsbildung
Rückblick Spitzentreffen Berufsbildung
Am diesjährigen Spitzentreffen Berufsbildung wurde die wichtige Diskussion zum Erhalt der Attraktivität der Berufsbildung lanciert. Aus Sicht von Travail.Suisse, dem unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, müssen Zugänge in die Berufsbildung für Erwachsenen ohne Berufsabschluss, für Arbeitnehmende mit ausländischen Berufsqualifikationen und für Menschen mit Behinderungen erleichtert werden. Weiter muss kontinuierlich die Qualität der Lehre und der Lehrbedingungen erhöht werden und auch die Koordination der Bildungsbereiche Berufsbildung und Hochschulwesen sollte besser koordiniert werden.
Mit dem Spitzentreffen Berufsbildung lädt der Vorsteher des WBF seit 2014 jährlich Vertreterinnen und Vertreter der Verbundpartner ein, um über aktuelle Fragen und Herausforderungen der Berufsbildung zu diskutieren. Das diesjährige Spitzentreffen fand am 21. November unter der Leitung von Bundesrat Guy Parmelin statt. Es hat sich in einem ersten Teil im Wesentlichen den folgenden vier Themen gewidmet:
- Berufsentwicklung
- Berufsabschluss für Erwachsene
- Evaluation Gremienstruktur der Berufsbildung
- Stand und Ausblick der Projekte von Berufsbildung 2030
Dabei hat insbesondere das Thema der Berufsabschlüsse für Erwachsene eine grosse Relevanz für Travail.Suisse. Im zweiten Teil wurde ein Schwerpunkt bei der Attraktivität der Berufsbildung gesetzt.
Berufsabschluss für Erwachsenen: Potenzial wird weiter zuwenig genutzt
Gemäss der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung des Bundesamtes für Statistik gab es in der Schweiz im Jahr 2023 rund 730‘000 Erwerbspersonen ohne Berufsabschluss. Damit exisitiert ein grosses Potenzial, das einerseits zur Stärkung der Berufsbildung und andererseits zur Linderung des oft beklagten Fachkräftemangels genutzt werden könnte. Ein Lösungsansatz sollten hier die Berufsabschlüsse für Erwachsenen (BAE) spielen. Für Erwachsene ist der Weg in eine reguläre berufliche Grundbildung grundsätzlich möglich, aber aus vielerlei Gründen wenig attraktiv. Daneben gibt es für Erwachsene die Möglichkeit, über eine verkürzte berufliche Grundbildung, über eine direkte Zulassung zum Qualifikationsverfahren (Abschlussprüfung) oder über die Validierung von Bildungsleistungen einen Berufsabschluss «nachzuholen». Nach einer leichten Zunahme stagniert die Anzahl solcher BAE seit 2020 bei rund 10‘000 pro Jahr. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei rund der Hälfte der Berufsabschlüsse von Erwachsenen um Zweitabschlüsse handelt, d.h. diese Arbeitnehmenden verfügenbereits über einen Abschluss in einem anderen Beruf. Travail.Suisse hat in seiner «Weiterbildungsoffensive» von 2022 aufgezeigt, dass damit pro Jahr nur rund 1.5 Prozent des Potenzials für berufliche Erstabschlüsse von Erwachsenen ausgeschöpft wird. Aus Sicht von Travail.Suisse krankt es insbesondere an drei Stellen: Erstens fehlteine Zielvereinbarung. Obwohl man sich in der Verbundpartnerschaft einig ist, dass ein Berufsabschluss die Arbeitsmarktchancen von Arbeitnehmenden verbessert und dem Fachkräftemangel entgegenwirkt, liegt bis jetzt keine Zielgrösse für zu erreichende BAE vor. Zweitens sollten BAE möglichst niederschwellig und effizient erreicht werden. Dies wäre über Validierung oder die Anrechenbarkeit von bereits erbrachten Bildungsleistungen möglich. Gerade in diesen beiden Bereichen kommen die BAE aber kaum vom Fleck. Als Folge wird die Mehrzahl der Berufsabschlüsse von Erwachsenen über reguläre oder allenfalls leicht gekürzte Lehrverhältnisse erreicht. Das Absolvieren einer Lehre im Erwachsenenalter stellt jedoch in vielerlei Hinsicht eine enorme Belastung für die Arbeitnehmenden dar. Drittens stellt insbesondere die finanzielle Situation aufgrund von Lohneinbussen ein Hindernis dar. Obwohl offensichtlich, wird dies kaum thematisiert. Zwar zeigt ein Bericht die Lücken bei der Finanzierung der indirekten Kosten auf, aber es geschieht kaum etwas Konkretes. Für Travail.Suisse ist klar, dass es in diesen drei Bereichen Lösungen braucht, damit endlich echter Schub in den Bereich der Berufsabschlüsse für Erwachsene kommt.
Erhalt der Attraktivität der Berufsbildung braucht Massnahmen auf vier Ebenen
Für Travail.Suisse ist die Berufsbildung von zentraler Bedeutung. Eine attraktive Berufsbildung integriert die Arbeitnehmenden erfolgreich und nachhaltig in den Arbeitsmarkt. Dies schafft Chancen für die Individuen, mindert die negativen Auswirkungen der sozialen Selektivität im Bildungssystem und stellt der Volkswirtschaft Fachkräfte zur Verfügung. Noch immer wählen drei von fünf Jugendlichen den berufsbezogenen Bildungsweg, aber die Konkurrenz durch die Gymnasien wächst – in den letzten Jahren haben allgemeinbildende Abschlüsse kontinuierlich zugenommen, während Abschlüsse in der Berufsbildung stagnierten. Der Erhalt der Attraktivität der Berufsbildung ist deshalb eine Daueraufgabe. Ein zweiter Teil des Spitzentreffens Berufsbildung war deshalb diesem Thema gewidmet. Für Travail.Suisse stehen dabei Massnahmen auf vier Ebenen im Vordergrund.
Verbesserter Zugang und Qualität der Lehre
Eine erste Ebene wurde bereits in Bezug auf die Berufsabschlüsse für Erwachsene angesprochen. So muss aus Sicht von Travail.Suisse der Zugang zum Berufsbildungssystem verbessert werden. Neben den Erwachsenen stehen hier insbesondere Menschen mit Beeinträchtigung und Arbeitnehmende mit ausländischen Berufsabschlüssen im Vordergrund. Während die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen sehr rigide und einzelfallbezogen gehandhabt wird und deshalb nur zu rund 2’500 Anerkennungen pro Jahr führt, liegt der Knackpunkt bei den Menschen mit Beeinträchtigung vor allem bei der Nahtstelle 1, also dem Übergang von der Volksschule ins Berufsbildungssystem. Während in der Volksschule in den letzten Jahre Anstrengungen in Richtung einer inklusiven Schule unternommen wurden, zeigen sich an der Nahtstelle 1 grössere Probleme. Nicht nur werden kaum Nachteilsausgleiche gewährt und fehlen Unterstützungs-Strukturen in den Berufsschulen, auch die Betriebe zögern, Lehrverhältnisse einzugehen. Weiter fehlt es grundsätzlich an einer gesamtheitlichen Betrachtungsweise und Herangehensweise im gesamten Berufsbildungssystem.
Die zweite Ebene betrifft die Qualität der Lehre selbst. Der frühe Berufswahlentscheid und der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt, kann für junge Menschen sehr hart erscheinen. Eine deutliche Ausdehnung der Anzahl Ferienwochen während der Lehre könnte hier den Übergang etwas abmildern. Aber auch die Qualität der Ausbildnerinnen und Ausbildnern könnte gesteigert werden. Die geltende Regelung eines lediglich fünftägigen Ausbildungskurses sowie die fehlende Verpflichtung zu kontinuierlicher Weiterbildung können dieser wichtigen Funktion ebenso wenig gerecht werden, wie die fehlende Anerkennung der Berufsbildnerinnen und Berufsbildner im Betrieb. Eine finanzielle Entschädigung und insbesondere die Bereitstellung von zeitlichen Ressourcen wären hier gleichermassen angebracht.
Bessere Anerkennung und verbesserte Koordination
Entscheidend für die Attraktivität der Berufsbildung ist ebenfalls die Anerkennung nach dem Abschluss. Hier liegt einerseits mit den ergänzenden Titelzusätzen «Professional Bachelor» und «Professional Master» für Abschlüsse der Höheren Berufsbildung ein wichtiges Projekt auf dem Tisch der Politik. Aus Sicht von Travail.Suisse ist die Verbesserung der Sichtbarkeit, Bekanntheit und Verständlichkeit dieser (tertiären) Bildungsabschlüsse im nationalen wie internationalen Kontext im Interesse der Arbeitnehmenden und des Berufsbildungssystems gleichermassen. Und selbstverständlich kann bei der Frage der Anerkennung die Lohnfrage nicht vollständig ausgeklammert werden. Das relative Erwerbseinkommen mit einem Abschluss der Höheren Berufsbildung liegt unter demjenigen eines Hochschulabschlusses (vgl. BfS Relatives Erwerbseinkommen) – dies kann beim Bildungsentscheid ebenfalls eine Rolle spielen.
Als letzte Ebene ist aus Sicht von Travail.Suisse schliesslich die Systemebene, resp. die bessere Koordination des Berufsbildungsbereichs mit dem Hochschulbereich zu erwähnen. Während die strategische Steuerung der Berufsbildung durch die Tripartite Berufsbildungskonferenz (TBBK) geschieht, wird diese Rolle im Bereich der Hochschulen über die Schweizerische Hochschulkonferenz (SHK) wahrgenommen. Eine Koordination dieser beiden Gremien ist institutionell nicht vorgesehen. Dies führt in der Praxis dazu, dass Entscheide in der SHK die Bemühungen zum Erhalt der Attraktivität der Berufsbildung unterlaufen können. Für Travail.Suisse ist eine verbesserte Koordination im Sinne einer «Schweizerischen Bildungskonferenz» unerlässlich, um eine bessere Koordination über das gesamte Bildungssystem hinweg zu erreichen.