Jede achte Person zwischen 25 und 64 hat keinen Berufsabschluss. Obwohl ein beträchtliches Potenzial vorhanden ist, schaffen es nur wenige Erwachsene ohne Berufsabschluss, eine Erstausbildung zu absolvieren. Es gilt, den Zugang zu Information, Beratung und Begleitung zu verbessern und finanzielle Hürden aus dem Weg zu schaffen. Dazu müssen die Kantone die Stipendiengesetze anpassen und mit der Sozialhilfe abstimmen. Zudem sollen mehr Erwerbslose mithilfe von Ausbildungszuschüssen der Arbeitslosenversicherung eine Erstausbildung absolvieren.
Die Frage, wie die Schweiz in Zukunft ihren Bedarf an Fachkräften decken wird, hat nach dem Ja der zur Initiative gegen die Masseneinwanderung an Brisanz gewonnen. Die geburtenschwachen Jahrgänge treten in den nächsten Jahren in den Arbeitsmarkt ein. Sie können die Babyboomer-Generation, die in Rente geht, nicht ersetzen. Der Fokus muss also darauf gerichtet werden, dass die erwerbsfähige Bevölkerung auf dem Arbeitsmarkt verbleibt und sich höher qualifizieren kann.
Vom Lehrstellenmangel zum Fachkräftemangel
Die Berufsbildung ist damit besonders gefordert. Sie setzte in den letzten zwei Jahrzehnten einen Schwerpunkt bei der Schaffung von Lehrstellen und der Integration von Jugendlichen mit schulischen, sprachlichen und sozialen Schwierigkeiten. Mit dieser Förderstrategie gelang es, Jugendliche in die Berufswelt zu integrieren. Der Lehrstellenmangel wurde nun vom Fachkräftemangel abgelöst. Eine Möglichkeit, diesen zu entschärfen, ist die Qualifizierung von Erwachsenen ohne anerkannten Berufsabschluss.
Die Instrumente, um Erwachsenen einen Erstabschluss zu ermöglichen, sind vorhanden. Für Erwachsene gibt es die Möglichkeit, eine Lehre zu machen. Diese kann auch in Teilzeit oder verkürzt absolviert werden. Es gibt aber auch den Weg, sich berufsbegleitend auf die Lehrabschlussprüfung vorzubereiten. Schliesslich gibt es in bestimmten Berufen Validierungsverfahren, um die Berufserfahrung anerkennen zu lassen. Dennoch absolvieren nur wenige der über 600‘000 Erwachsenen ohne Erstabschluss eine Ausbildung. Je nach Studien bringen 52‘000 bis 93‘000 Personen die Voraussetzungen mit, um direkt in eine Nachholbildung einzusteigen. 2012 gingen jedoch nur rund 1‘300 Berufsabschlüsse an Erwachsen ohne Erstausbildung.
Zugang zu Information und Beratung erleichtern
Das Potenzial der Erwachsenen ohne Erstausbildung wird nur schlecht ausgeschöpft. Es stellt sich die Frage, welche Faktoren den Zugang zur Nachholbildung erschweren. Zum Teil fehlt es in breiten Kreisen der Bevölkerung nach wie vor an Wissen über die Ausbildungsangebote, selbst bei Berufsbildner/innen oder Personalfachleuten. Die relevanten Informationen auf den Webseiten der Kantone sind erst nach mehreren Klicks zu finden. Die Beratungen sind nicht in allen Kantonen kostenlos. Es braucht deshalb eine Informationskampagne, die von Bund, Kantonen und den Sozialpartnern getragen wird. Branchenverbände sollen ihre Arbeitgeber sensibilisieren und die Nachholbildung zu ihrem Anliegen machen. Schliesslich sollen die Kantone Information, Beratung und Begleitung leicht zugänglich und kostenlos anbieten.
Teils mangelnde Grundkompetenzen
Einem Teil der ausbildungslosen Erwachsenen fehlt es an den notwenigen Grundkompetenzen (Lesen und Schreiben, Alltagsmathematik, lokale Standardsprache, Kenntnisse der Informations- und Kommunikationstechnologie IKT). 1 Dies betrifft sowohl Migrantinnen und Migranten mit einem schmalen Bildungsrucksack wie auch Personen, die in der Schweiz die Schule besucht haben. Die letzteren haben den Einstieg in die Lehre nicht geschafft, die Ausbildung abgebrochen oder die Abschlussprüfung nicht bestanden. Bei den drei genannten Gründen spielen schwache schulische Leistungen eine wichtige Rolle. Dazu kommt, dass die Grundkompetenzen im Berufsalltag von vielen Ausbildungslosen wenig angewendet werden und über die Jahre hinweg vergessen gehen. Ein Teil der ausbildungslosen Erwachsenen wird sich also zuerst die schulischen Grundlagen erarbeiten müssen, um überhaupt in der Lage zu sein, eine Ausbildung auf Sekundarstufe II in Angriff zu nehmen.
Bei Migrantinnen und Migranten erweist sich oft die ungenügende Sprachkompetenz in der lokalen Standardsprache als hinderlich. Zusätzlich kann auch der Erwerb einer zweiten Landessprache, wie er in der Kaufmännischen Lehre und den Detailhandelsberufen vorgesehen ist, eine Barriere bilden. Die Kantone sollten darum vermehrt berufsvorbereitenden Angebote bereitstellen (z.B. die Vorlehre Erwachsene im Kanton Bern) sowie Bildungsangebote, die mit Spracherwerb kombiniert werden.
Finanzielle Hürden sind hoch
Häufig scheitern Bemühungen zur Nachqualifizierung schlichtweg am Geld. Erwerbstätige ohne Ausbildung erzielen nur einen geringen Lohn. Sie können, gerade wenn sie noch für Kinder zu sorgen haben, ihr Pensum wegen einer Ausbildung nicht reduzieren. In vielen Kantonen können Erwachsene ohne Erstabschluss nicht auf Stipendien zurückgreifen. Entweder scheitern sie an der Altersobergrenze oder die Höhe der Stipendien ist nach oben begrenzt. Bei Sozialhilfebeziehenden stellt sich zusätzlich das Problem, dass Sozialhilfe und Stipendiengesetze häufig nicht aufeinander abgestimmt sind. Die Regelungen sind daher zu ändern: Stipendien sollen ohne Altersobergrenze vergeben werden und den Lebensunterhalt sichern.
Ausbildungszuschüsse werden sehr restriktiv angewandt
Personen ohne Erstabschluss machen rund ein Drittel aller Stellensuchenden aus. Sie können die Zeit der Arbeitslosigkeit kaum nutzen, da die Arbeitslosenversicherung nur in Ausnahmefällen eine Berufsausbildung finanziert. Die Massnahme der Ausbildungszuschüsse wird nämlich nur restriktiv angewandt. Mit Ausbildungszuschüssen ergänzt die Arbeitslosenversicherung den Lehrlingslohn maximal während drei Jahren auf einen Höchstbetrag von CHF 3‘500. 2012 waren 41‘000 registrierte Arbeitslose ohne Erstausbildung. Dem standen weniger als 500 Erwachsene in Ausbildung gegenüber, die von der Arbeitslosenversicherung mit Ausbildungszuschüssen unterstützt wurden. Die Zahl der Berufsabschlüsse, die mithilfe von Ausbildungszuschüsse erreicht werden, muss massiv erhöht werden. Ziel muss sein, jährlich 1‘000 Berufsabschlüsse mithilfe von Ausbildungszuschüssen zu erreichen. Diese Kosten für die Grundausbildung sollen nicht von der Arbeitslosenversicherung selbst sondern vom Bund übernommen werden, denn die Erstausbildung ist Sache des Staates.
Commitment zur Förderung der Nachholbildung
Neben den verbesserten Rahmenbedingungen braucht es eine gezielte Förderung der Nachholbildung durch Bund, Kantone und die Sozialpartner. Zurzeit besteht keine Verpflichtung der Verbundpartner, die Bildungsanstrengungen von Erwachsenen ohne Erstabschluss aktiv zu fördern. Mit einer verbindlichen Vereinbarung könnte dies geändert werden. Das Commitment, dass 95% aller Jugendlichen einen Abschluss auf Sekundarstufe II erreichen, sollte dabei als Vorbild dienen. Dazu sind Gesetzesänderungen im Berufsbildungsgesetz notwendig, um Erstabschlüsse von Erwachsenen finanziell fördern und entsprechende Gelder für innovative Projekte zur Verfügung stellen zu können. Als Ziel des Commitments schlägt Travail.Suisse vor, in zehn Jahre 30‘000 Erstabschlüsse von Erwachsenen zu erreichen. Bund und Kantone müssten zur Finanzierung der Ausbildungs- und Lebenshaltungskosten je rund CHF 850 Mio. zur Verfügung stellen.
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p(footnote). 1 Der Entwurf des Bundesrates zum Weiterbildungsgesetz WeBiG sieht Regelungen zum Erwerb und Erhalt von Grundkompetenzen Erwachsener vor: Bund und Kantone sollen Grundkompetenzen Erwachsener fördern (WeBiG Art. 15), das SBFI kann Finanzhilfen an die Kantone leisten (WeBiG Art. 16). Zum aktuellen Stand des Weiterbildungs-gesetzes siehe
http://www.sbfi.admin.ch/themen/01366/01382/01388/index.html?lang=de.